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Tobia Scarpa

Das Konzept der Wahrheit

Der Architekt und Designer Tobia Scarpa ist ein kreatives Talent, das sich den Ehrentitel "Maestro" wahrlich verdient hat. Kurz nach Abschluss seines Studiums wurde er bereits mit dem renommierten Industriedesign-Preis "Compasso d'Oro" ausgezeichnet. Seine Entwürfe für Unternehmen wie Flos, Gubi, Cassina und Knoll International, die er teilweise gemeinsam mit seiner Frau Afra geschaffen hat, zeugen von einem außergewöhnlichen Sinn für Details. Im Interview erläutert er, was seine Arbeit ausmacht.
04.09.2025

Anna Moldenhauer: Die Ihnen zugeschriebenen Bezeichnungen wie Architekt oder Designer mögen Sie nicht besonders. Sie sagen, dass es sich dabei lediglich um Labels handelt, mit denen Sie sich nicht identifizieren können. Warum ist das so?

Tobia Scarpa: Sie weichen vom Konzept der Wahrheit ab. Man muss in allem, was man tut, absolut rigoros sein, seine Gedanken klar formulieren. Wenn die eigenen Grenzen davon abhalten, die falschen Dinge zu unterbinden, ist man für diese Aufgabe nicht geeignet.

Sie haben die höchsten Auszeichnungen der Branche erhalten, wie den ADI Compasso d'Oro für den Sessel "Soriana" und den Compasso d'Oro für Ihr Lebenswerk. Das Rampenlicht haben Sie aber nie gesucht. Sie sind bescheiden, wenn es darum geht, über Ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten und Leistungen zu sprechen. Warum zieht Sie die Bühne nicht an?

Tobia Scarpa: Das Grundkonzept, das für mich sehr klar ist, besteht darin, dass ich spontane, unbeschwerte Dinge bevorzuge. Ich bin der Ansicht, dass es genügt, wenn man in der Lage ist, einen Gedanken anzubieten.

Ihr Vater, Carlo Scarpa, ein renommierter Architekt, hat Ihre Karriere beeinflusst. In Ihrer Arbeit haben Sie jedoch stets Abstand zu ihm gehalten, um ihm Raum zu geben und Ihre eigene Karriere aufzubauen. Das klingt nach einer äußerst anspruchsvollen Aufgabe. War es das auch?

Tobia Scarpa: Ja, das war es und im Grunde ist die Distanzierung nicht möglich. Wie sollte man sich von jemanden lösen können, der einem alles beigebracht hat?

"Africa Chair", Afra & Tobia Scarpa für Tacchini, 1975
"Pigreco", Afra & Tobia Scarpa für Tacchini, 1959
"Elogio" Sofa, Afra & Tobia Scarpa für B&B Italia, 1974. Weiterentwicklung für Gubi, 2025 (Foto)

In Bezug auf die Ausbildung haben weder Sie noch Ihr Vater traditionelle Bildungswege eingeschlagen. Darüber hinaus haben Sie es trotz Legasthenie geschafft, sich im "System" auf eigenen Pfaden zurechtzufinden. Liegt Ihnen der revolutionäre Geist im Blut?

Tobia Scarpa: Alle freien Menschen sollten rebellisch sein. Ich bin der Ansicht, dass ich das, was man mir in der Schule beibringen konnte, bereits von meinem Vater oder seinen Freunden, die häufig bei uns zu Hause zu Besuch waren, gelernt hatte. Ihre Herangehensweise an ein Thema bestand darin, zu verstehen: "Warum hat der Künstler das gemacht?" Letztendlich mag es sich um ein Stück Stein gehandelt haben, aber dieses Stück Stein war nicht so einfach herzustellen, denn es hätte zu groß und damit minderwertig, zu schwer oder zu dünn sein können... Die Kultur, in der ich aufgewachsen bin, war darauf bedacht, sehr flexibel zu sein und Phänomene zu erkennen, wobei man sich unglaublich viel Zeit nahm, um sie zu begreifen. Ich habe sehr spät meinen Abschluss gemacht, weil ich gegen Ende meines Studiums bereits begonnen hatte, mit vielen Unternehmen zusammenzuarbeiten, darunter auch Flos, das gerade erst gegründet worden war, und ich war zu dieser Zeit zweifellos noch Student. Ich bin auch heute noch Student.

Sie haben Ihre Karriere sehr früh begonnen und waren 1958 bei der Glasmanufaktur Venini tätig. Was hat Sie an diesem Material fasziniert?

Tobia Scarpa: Der Einstieg bei Venini war wie die Ankunft an einem heiligen Ort. Es ist eine Welt, die eine Fülle von Informationen enthält, die über das reine Erlernen des Materials hinausgehen. Es erfordert ein Verständnis der Kultur, und wenn man diese Aspekte nicht schätzt, versteht man nichts von diesem Phänomen. Daher sind Vorbereitung und eine bestimmte Charaktereigenschaft erforderlich, damit man leicht und unbeschwert lernen kann und nicht nur den einfachen Teil des rationalen Denkens übernimmt. Andernfalls wird man in eine Form gepresst, die von denen, die vor einem in diesem Bereich gearbeitet haben, starr festgelegt wurde. Daher ist es sehr wichtig, sich als regelrechter Ignorant zu präsentieren, aber nach den feinen und grundlegenden Punkten des Themas zu suchen.

Ihr Vater war nicht nur als Architekt tätig, sondern verbrachte seine Abende auch mit dem Zeichnen von Kunstwerken. Ihre Tante war zudem die Malerin Bice Lazzari. Wie würden Sie Ihre Verbindung zur Kunst beschreiben?

Tobia Scarpa: Als ich ein Junge war, bekam ich von außen ein streng definiertes Konzept vermittelt: Kunst wurde eingehend erforscht und dann in Büchern beschrieben. Dies führte zu Wissen, jedoch nicht zu einem umfassenden Verständnis der Dinge. Zu Hause wurde mir hingegen beigebracht, allem gegenüber sehr neugierig zu sein. Meine Begegnung mit den Werken der Vergangenheit durch die Belesenheit meines Vaters war viel dynamischer war als das, was ich in der Schule lernen konnte. Nichts, was ich in der Schule gelernt habe, war jemals so nützlich wie die Worte meines Vaters. Es ist von grundlegender Bedeutung, die Werke der Vergangenheit zu verstehen, zu kennen und analysieren zu können. Es ist unerlässlich, sie durch Wissen zu "verstehen", aber wenn man sie nur durch den bloßen Besitz (von Wissen) kennt, hat man nichts. Ein Kunstwerk ist ein Geheimnis, es ist das Können, das zu konstruieren, was man zeigt.

"Biagio" Tischleuchte von Afra & Tobia Scarpa für Flos, 1968

Sie wurden in Venedig geboren. Welche Rolle spielt Ihre Verbindung zum Wasser in Ihren Entwürfen?

Tobia Scarpa: Es ist sehr schwierig zu erklären und zu verstehen, dass das "Spiel" mit Wasser sich von dem mit anderen Dingen unterscheidet. Venedig verdankt seinen Reichtum dem Wasser, welches die Eigenschaft besitzt, sich auf komplexe Weise zu transformieren.

Viele Jahre lang waren Sie für die Projekte von Benetton in Europa und den Vereinigten Staaten verantwortlich, darunter die erste Textilfabrik des Unternehmens in Castrette di Villorba und die Innenarchitektur der Büros in Paris, Freiburg und New York sowie der Ladengeschäfte. Was war für Sie in Ihrer kreativen Arbeit mit dem Unternehmen entscheidend?

Tobia Scarpa: Vielleicht war ich die richtige Lösung.

Sie haben zahlreiche bestehende Gebäude restauriert und neue gestaltet. Gemeinsam mit Ihrer Frau Afra haben Sie zum Beispiel 1969/70 das Haus in Trevignano geplant. Die Verbindung zum räumlichen Kontext ist deutlich erkennbar. Auch Licht spielt eine wesentliche Rolle. Warum ist Ihnen die starke Verbindung zwischen Ihrer Architektur, dem Ort und der Natur wichtig?

Tobia Scarpa: Wo diese Verbindung möglich ist, wird sie unbedingt angestrebt, um die Präsenz des Geländes mit der Tradition des Ortes in Einklang zu bringen. Diese wird durch das Design niemals negiert, sondern respektiert.

"Soriana" Sofa von Afra & Tobia Scarpa für Cassina. Re-edition, 2021 (Foto).

Ihre Arbeit vermittelt ein Gefühl von Schönheit, Wahrheit und Reinheit. Sie wird von Menschen geschätzt, da Sie durch ihre Detailtreue und Reduktion auf das Wesentliche etwas Poetisches schaffen. Gleichzeitig sind es funktionale Objekte, die aus technischer und handwerklicher Sicht anspruchsvoll sind. Wie erreichen Sie diese Balance?

Tobia Scarpa: Zunächst einmal gibt es das Prinzip, das sich nach der Frage richtet: "Was ist meine Tätigkeit?" Wenn Sie sich darüber im Klaren sind, werden auch die Gründe dafür deutlich, warum Sie damit begonnen haben. Von der Technik erwartete ich Antworten, die den Grund, warum unsere Arbeit darauf abzielt, die wahrhaftigsten Dinge zu entdecken, nicht verfehlen würden. Der Versuch bestand darin, das Prinzip der Qualität nicht zugunsten der Bedeutung der Methode zu vernachlässigen. Es ist notwendig, im Streben nach Wahrheit zu handeln. Im Mittelpunkt der Haltung von meinem Vater und mir steht die Regel, dass es nicht möglich ist, "zu betrügen". Wer in seinem Inneren integer sein möchte, muss die makellose Logik seines Handelns finden und darf das Prinzip nicht verraten.

Sie haben sich stets für den Einsatz neuer Materialien und Technologien sowie für Fortschritte in der industriellen Produktion interessiert, sei es die Verwendung von kaltem Polyurethan, "Cocoon"-Harz oder der Sessel "Coronado", dessen Technologie entwickelt wurde, um die gesamte Struktur mit nur zwei Schrauben zusammenzuhalten. Welche Forschungsarbeiten finden Sie derzeit besonders interessant?

Tobia Scarpa: Alles, was auf völlig neue Weise entwickelt werden kann, nicht nur auf klassische Weise. Die Herangehensweise an das Projekt ist entscheidend; das Produkt muss außerordentlich ehrlich sein, es darf nicht "irreführend" sein. Nach dem Grundprinzip macht man also immer wieder Fehler und fängt von vorne an. Das Experimentieren mit neuen Technologien ist Teil des Projekts als kontinuierliches Kontrollelement, um sicherzustellen, dass keine Fehler gemacht werden.

Modetrends haben Sie stets abgelehnt; Ihre Entwürfe sind zeitlos. In den letzten Jahren hat der Markt eine Wertschätzung für die Formen und den Komfort der 1960er und 1970er Jahre wiederentdeckt. Wie beurteilen Sie diese Retro-Nostalgie für das "goldene Zeitalter" des Designs?

Tobia Scarpa: Damals wollten DesignerInnen und Unternehmen Produkte schaffen, die in jeder Hinsicht Wohlbefinden vermitteln. Es handelt sich nicht um Nostalgie. Ich bin der Meinung, dass der Markt die Realität wiederentdecken muss, die ihn ursprünglich motiviert hat. Diese Realität ging in offensichtlichen Fantasien verloren, die nichts bewirkten, woraufhin sich die Menschen schlichtweg, aber zu Recht wieder der Wahrheit der Dinge zuwandten.

San Teonisto (Treviso, Italien) 2016. Ehemalige Kirche San Teonisto. Restaurierung und Umbau zu einem Auditorium/ Ausstellungsraum.

Viele der Wege, die Sie in Ihrer Karriere eingeschlagen haben, waren das Ergebnis von unterschiedlichen Gelegenheiten. Gibt es rückblickend etwas, das Sie anders gemacht hätten?

Tobia Scarpa: Auf jeden Fall alles. Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich alles tun, um ein besseres Verständnis (der Phänomene) zu erlangen, damit sie authentischer wären.

Welchen Rat würden Sie jungen GestalterInnen gerne geben?

Tobia Scarpa: Es ist sehr anspruchsvoll, denn ein junger Mensch, der am Anfang seiner Karriere steht, betritt eine "Welt voller Herausforderungen". Es ist wahr, dass man Gutes bewirken kann, wenn man weiß, wie man mit diesen Herausforderungen umgeht, aber man muss wissen, wie man das macht. Man muss also einen Weg finden, um zu lernen, was gut ist und was nicht.

Welche kreative Idee würden Sie gerne noch umsetzen, sei es in der Kunst, im Design oder in der Architektur?

Tobia Scarpa: Es ist stets eine Frage der Aufrichtigkeit des Denkens. Das Material oder das Projekt, das entsteht, sagt: "Bitte teilen Sie mir mit, was Sie brauchen. Wenn Sie mich für nützlich erachten, stehe ich zur Verfügung und bin überzeugt, dass Sie mich nicht enttäuschen werden."

Ca' Scarpa (Treviso, Italien), 2020. Ehemalige Kirche Santa Maria Nova. Restaurierung und Umbau zu einem Ausstellungsraum.