top
Ulrich Hensel, Düsseldorf, Grünstraße, 1998, C-Print Diasec, 187 x 256 cm, Sammlung Gereon Frauenrath, Düsseldorf

Grenzgänger

Ulrich Hensel fotografiert Fragmente von Großbaustellen und inszeniert so die mystische Schönheit des Unfertigen, in der immer neue Spannungen entstehen.
von Anna Moldenhauer | 05.08.2020

"Die Kunst ist schon da", sagt Ulrich Hensel. Statt zu schaffen, findet er. Erkundet, welche Bilder das Wirken des Menschen im Städtebau erzeugt. Auch wenn bereits vorhanden, ist es eine Herausforderung diese im Rauschen des Alltags zu erkennen. Den richtigen Ausschnitt zu wählen, der das vermeintlich banale zu etwas Besonderem macht. Seit gut 30 Jahren sucht der Düsseldorfer die Kunst in Großbaustellen. Zeigt in seinen "Zwischenwelten" temporäre Spuren einer Architektur, die entsteht. Mit einer analogen Plattenkamera lässt er diese im Anschluss festhalten, sein Konzept inszenieren. Hebt die Realität stückweise heraus aus ihrem urbanen Bezug, hinein ins Museale, wo man sie rahmt und sich noch die Zeit lässt, um genau hinzuschauen. Geschenkt bekommt Ulrich Hensel die Motive nicht. Es bedarf viel Geduld, einen geschärften Blick und auch ein wenig das Glück des Zufalls. "Es gibt kein Gesetz, was eine Szene ausmacht, damit sie für mich interessant ist", so Hensel. Relevant ist für ihn "das Stück dazwischen", der Prozess. Um diesen einzufangen und mit dem kleinen Ausschnitt den großen Ablauf zu verdichten, folgt er einem eigenen. Fährt mit dem Auto durch Städte wie Düsseldorf, Gent, Wuppertal oder Köln, von einer Großbaustelle zur nächsten. Spaziert zu Zäunen und schaut in Baugruben. Erbittet bei Bauleitern den Zutritt zur Kunst. Gemein ist ihr das malerische Gefühl, das sich bei ihm einstellt, wenn er sie betrachtet. Das bühnenhafte, dem stets ein Objekt innewohnt, meist in Form eines funktionalen Gegenstandes. Jeder Moment ist einzigartig und unwiederbringlich, ausgeschnitten mit den Augen.

Die Aufnahmen von Ulrich Hensel sind nicht dokumentarisch. Trotz der fehlenden Flucht im Bildaufbau ziehen sie den Blick des Betrachters in sich hinein, in das offene Herz der Rohbauten. Zu den vielen Details und losen Enden, die im Verbund bald ein homogenes Ende formen sollen. Die Collage aus nüchternem Baumaterial und überraschend farbigen Akzenten, aus Dämmstoff, Betonstahl und Markierungen in leuchtender Neon-Sprühfarbe, wird im aufgewühlten Boden geerdet. Ein Kosmos, in dem stetig neue Zusammenhänge entstehen. In dem sich Schichten bilden, aus Teilabschnitten und Provisorien, deren Hierarchien vor und nach der Aufnahme fortwährend wechseln. Der finale Status bleibt unbekannt. Als Betrachter neigt man einen Halt in diesem Rätsel zu suchen und Hensels Fotografien über die Kategorisierung greifbar zu machen. Doch auch wenn man meint, in ihnen eine Ähnlichkeit zu Werken namhafter Maler der Vergangenheit erkannt zu haben, so bleiben sie doch eigenständig, lassen sich nicht einpassen in die vermeintliche Sicherheit des schon Gesehenen. Der kunstgeschichtliche Kontext ist nicht zwingend notwendig, um die Bildgewalt der Ausschnitte in ihrer Tiefe zu erleben. Ulrich Hensel ahmt Malerei nicht nach, er setzt weder Hommage noch Demontage an bestehende Werke. Stattdessen simuliert er mit der Kamera den Pinselstrich. Und spiegelt damit die zeitgenössische gesellschaftliche Entwicklung, in der wir uns bevorzugt mit Hilfe einer Kamera ausdrücken, um anhand ausgesuchter Ausschnitte eine gewünschte Leseweise des Ganzen zu kuratieren. "Wir leben heute in einer nie dagewesenen Doppelheit", sagt er. Dem intensiven Erleben seiner Fotografien hilft er mit dem Großformat, das oft den realen Abmessungen der Baustellenszene nahekommt. Nachbearbeitet sind die Fotografien nicht, Hensel achtet lediglich darauf, dass die Lichtbedingungen bei der Aufnahme für ihn stimmig sind. "Was nach dem Entdecken des Motives bis zur Ausstellung folgt, ist wie eine Nivellierung, der entscheidende Moment ist dann bereits geschehen", sagt er.

Für seine aktuellen Fotografien verlässt Ulrich Hensel einstweilen das dynamische Chaos der Baugruben und erkundet die organisierte Operation im Inneren der im Werden befindlichen Architektur – wenn der Baukörper bereits steht und die Technik in den Fokus der Fertigstellung rückt. Zeigt uns strukturierte Skulpturen aus kalt glänzenden Versorgungsleitungen, Kabelsträngen und Heizungsrohren, kurz bevor sie hinter Verkleidungen oder unter dem Fundament verschwinden. "Ein technoider, anorganischer Wald, ein Stück Zukunft", sagt er. Mit seinen Arbeiten löst Ulrich Hensel Grenzen zwischen den Kunstformen, zwischen Fotografie und Malerei, zwischen Bild und Abbild. Jede ist ein einzigartiger Bestandteil aus dem Prozess der Konstruktion. Kunst aus dem Leben, fragmentarisch wie das Leben selbst.


Ulrich Hensel "Zwischenwelten"

Bis 8. November 2020

Kunstmuseum Wolfsburg
Hollerplatz 1
38440 Wolfsburg

Ulrich Hensel, Düsseldorf, Am Mühlenturm, 2009, C-Print Diasec, 207 x 284 cm, Sammlung Gereon Frauenrath, Düsseldorf