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Ersilia Vaudo

Fremde Welten

Die Ausstellung "Unknown Unknows" ist das Herzstück der 23. internationalen Ausstellung der Triennale Milano. Gezeigt werden mehr als hundert Werke, Projekte und Installationen von internationalen KünstlerInnen, ForscherInnen und DesignerInnen, die sich mit dem Unbekannten beschäftigen - von der Schwerkraft über die Tiefen des Weltraums bis zu wunderlichen Naturphanomänen und Herausforderungen für die Architektur. Das Konzept erklärt uns die Kuratorin Ersilia Vaudo, Astrophysikerin sowie Chief Diversity Officer der Europäischen Weltraumorganisation.
20.10.2022

Anna Moldenhauer: "Unknown Unknowns" thematisiert das Unbekannte – von Bautechnologien für Mars und Mond der Architekturbüros BIG und SOM über eine 40.000-fach vergrößerte Amöbe der Künstlerin Sonja Bäumel, die unsere direkte Verbindung zur mikrobiellen Welt veranschaulicht, bis hin zu einer Datenskulptur von Refik Anadol. Nach welchen Kriterien haben Sie die Beiträge ausgewählt?

Ersilia Vaudo: "Unknown Unknowns" gliedert sich in Pfade, deren Grenzen absichtlich unscharf und durchlässig sind. Der interdisziplinärer Ansatz der Schau bringt eine Vielzahl von Werken, Projekten und Installationen von internationalen KünstlerInnen, ArchitektInnen, ForscherInnen und DesignerInnen ins Spiel, die sich mit dem Unbekannten auseinandersetzen. Bei der Auswahl der Werke habe ich darauf geachtet, Vereinfachungen oder ein stereotypes Konzept des Unbekannten als Antagonist zu dem, was wir eigentlich wissen, zu vermeiden. Vielmehr wollte ich ein Umfeld schaffen, das beim Publikum eine ungebremste Neugier hervorruft, das sich für andere Perspektiven öffnet, aber niemals das Wesen dessen, was wir sind, hinter sich lässt. Wir haben an vier speziellen Aufträgen gearbeitet, die wir an Yuri Suzuki, Irene Stracuzzi, das Architekten- und Designerkollektiv SOM und Refik Anadol übergaben. Diese haben somit die Möglichkeit, ihre laufenden Recherchen fortzusetzen und sie in der thematischen Ausstellung zu präsentieren. Darüber hinaus umfasst die Schau eine Reihe von ortsspezifischen Installationen und vier Hörräume, in denen der Klang zu gesprochenen Worten wird und die BesucherInnen sich den Erzählungen führender Persönlichkeiten aus der Welt der Wissenschaft widmen können. Am Ende der Schau kann eine weitere besondere Installation entdeckt werden, die von der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) kuratiert wurde: Diese bietet einen überraschenden Blick auf die Erde, einen Blick in die Ferne, der uns selbst zugewandt ist.

Viele der Beiträge weisen einen starken Bezug zur Mathematik auf. Wie kann uns die Mathematik helfen, das Unbekannte zu verstehen?

Ersilia Vaudo: Die Mathematik ermöglicht es uns, unser Wissen dort zu erweitern, wo unsere Sinne dazu neigen es zu blockieren. Diese vermitteln uns die Illusion, dass etwas nur dann wirklich ist, wenn wir es hören oder sehen können. Die Mathematik ist eine Sprache, die uns neue Wirklichkeiten eröffnet. Sie resultiert aus unseren intellektuellen Fähigkeiten, die uns in Welten führen, die wir sonst nicht besuchen könnten. Sie kann uns zum Beispiel Fragmente der Realität liefern, die wir uns noch nicht vorstellen können, wie im Fall der Paul-Dirac-Gleichung, die die Existenz von Antimaterie aufdeckte und die der Physiker Carl David Anderson erst später zum ersten Mal beobachtete. Bei der Messung der kosmischen Strahlung in einer Nebelkammer stellte Anderson eine Spur fest, die der eines Elektrons ähnelt, aber eine spiegelnde Krümmung aufweist. Nachdem er seine Entdeckungen mathematisch überprüft hatte, kam er zu dem Schluss, dass es sich um ein Gegenstück des Elektrons handelte, das die gleiche Masse und die gleichen Eigenschaften hatte, aber eine positive elektrische Ladung besaß, und nannte es "Positron". Diese Entdeckung eines Antiteilchens brachte Anderson 1936 den Nobelpreis ein. Dieses Bild hat für mich eine außergewöhnliche Kraft: eine dünne Spur auf einem grauen Hintergrund, die die Realität für neue Welten öffnet. Die Mathematik ist ein Weg in die unbekannten Unbekannten.

"The Future's Present" by architect Francis Kéré
"Yesterday's Tomorrow" project by architect Francis Kéré

Der Architekt und Pritzker-Preisträger Francis Kéré hat den Turm "The Future's Present" entworfen, der direkt vor dem Eingang der Triennale steht, sowie zwei Skulpturen im Inneren. Er kuratierte auch die Teilnahme von sechs afrikanischen Ländern im Rahmen der internationalen Beteiligung. Wie kann ich mir Ihre Zusammenarbeit vorstellen?

Ersilia Vaudo: Das Projekt für die 23. Internationale Ausstellung begann von Anfang an als eine Zusammenarbeit mit vielen Beteiligten, als eine Konstellation verschiedener Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Realitäten, die zusammenkommen, um Teil eines größeren Projekts zu sein. Diese Gruppendimension war von grundlegender Bedeutung, um die besten Synergien für die Ausstellung zu schaffen, insbesondere mit Francis Kéré, der eine andere Perspektive auf Afrika einbrachte. Unsere Projekte als HauptkuratorInnen zielten in die gleiche Richtung, sprich wir wollten das gängige Wissen erschüttern, die Sichtweise auf das, was wir für real oder vertraut halten, verändern und die Kreativität und Neugier des Publikums wecken. Unsere beiden Bemühungen konzentrierten sich darauf, Geschichten aus einem anderen Blickwinkel zu erzählen.

Die Erforschung des Unbekannten ist reizvoll und eröffnet viele Perspektiven, wirkt aber in ihrer Komplexität oft auch bedrohlich. Wie können Design, Kunst und Architektur dazu beitragen, unsere Welt ein wenig verständlicher zu machen?

Ersilia Vaudo: Ungefähr in der Mitte von Unknown Unknowns, einer Ausstellung verschiedener Bildschirme von SOM Studio, Decalogue for Space Architecture, wird eine Liste der Dinge und Grenzen dargestellt, die künftige extraterrestrische ArchitektInnen berücksichtigen müssen, wenn sie für die Menschheit im Weltraum bauen. Das Projekt hilft uns nicht nur, darüber nachzudenken, welche Bedingungen wir nachbilden sollten, um auf einer anderen Oberfläche als der Erde zu bauen, sondern es erlaubt uns auch, das zu überdenken, was wir immer als normal angesehen haben, wenn es darum geht, einen Raum zu bauen. Das Projekt von SOM zeigt uns, wie farbenfroh die Gebäude auf dem Mond sein müssten, um zu verhindern, dass die fehlende Atmosphäre alles schwarz und weiß erscheinen lässt. Es zeigt uns, wie wichtig es wäre, die Schwerkraft wiederherzustellen, da das Fehlen der Schwerkraft die Knochendichte langsam verringern und Muskelschwund verursachen würde. Ich stelle dieses Projekt gerne heraus, weil es, wie viele andere Werke in den Ausstellungen, unseren Geist für neue Möglichkeiten öffnet und uns zeigt, dass unsere Art, Dinge zu tun, nicht die einzige ist. Es lässt uns Alternativen in Betracht ziehen, um zu bauen, zu leben, zu schaffen. Also einen völlig anderen Lebensstil in Betracht zu ziehen, den wir uns allein mit unseren Sinnen niemals hätten vorstellen können. Deshalb glaube ich, dass der Akt der Schaffung von etwas durch Design, Kunst oder Architektur unsere Welt in ihrer Komplexität und Schönheit vielleicht ein wenig verständlicher machen könnte.

Eingang zur Ausstellung "Unknown Unknows"
"Perfect Bodies" von Bosco Sodi und "Sound of the Earth: Chapter 3" von Yuri Suzuki

Viele der Werke wurden speziell für die 23. Internationale Ausstellung entworfen, sowohl für die von Ihnen kuratierte Ausstellung "Unknown Unknowns", die einen Blick in den Weltraum wirft, als auch für die von Hervé Chandès kuratierte Ausstellung "Mondo Reale", die sich mehr auf das Unbekannte auf unserer Erde konzentriert. Gab es für die Kreation der Werke Richtlinien?

Ersilia Vaudo: Die 23. Internationale Ausstellung ist als eine große und plurale Konstellation von Schauen, Installationen und Projekten konzipiert. Das Konzept, das der Ausstellung zugrunde liegt, ist das Ergebnis eines Dialogs mit KünstlerInnen und Kreativen, die das Thema völlig frei interpretieren konnten. Die Triennale war für sie eine Chance, ein Projekt fortzusetzen, an dem sie bereits arbeiteten, wie im Fall von Yuri Suzukis Sound of the Earth: Chapter 3, oder eine Arbeit aus dem Dialog mit KünstlerInnen und KuratorInnen entstehen zu lassen. Wie die Installation Playing the Unknown des Musikers und Schriftstellers Francesco Bianconi, der seine Idee des Unbekannten in Musik umsetzte, oder die Ausstellung Il corridoio rosso (Der rote Korridor) von Giovanni Agosti und Jacopo Stoppa, eine Idee, die nach meinem Besuch in Agostis Haus entstand, dessen Struktur perfekt die Idee eines Raums voller Geheimnisse vermittelt. Das Fehlen strikter Vorgaben ermöglichte es der diesjährigen Ausstellung, ihre Form im Laufe der Zeit zu verändern und verschiedene Bedeutungsebenen aufzubauen, so dass sich die KünstlerInnen gegenseitig beeinflussen konnten.


Unknown Unknowns
Bis 11 Dezember 2022


Triennale Milano
Viale Alemagna 6
20121 Milan
Telefon: +39 02 724341