top

NACHHALTIGKEIT
Schatten-Energie-Kreislauf

Mit "VERD°" bringt OMC°C ein ziemlich radikales vertikales Begrünungssystem zur Serienreife für urbane Standorte, an denen keine Bäume gepflanzt werden können. Im Sommer spendet es Schatten, im Herbst werden die Pflanzen geerntet und liefern Biomasse für Energie.
von Gabriela Beck | 21.07.2023

Aus extrem wurde normal. Die jüngste Vergangenheit brachte in Deutschland, der Schweiz und Österreich fast durchwegs Sommer im Rekordbereich. Temperaturen von 33 Grad Celsius und darüber sind keine Seltenheit mehr. Besonders im urbanen Raum mit seinen vielen versiegelten Flächen staut sich die Hitze. Mehr Schatten tut not. Doch gerade im Straßenraum und auf Plätzen ist es wegen der zahlreichen im Erdboden verlaufenden Rohre, Schächte und Kommunikationsleitungen häufig nicht möglich Bäume zu pflanzen. Auch auf Tiefgaragen geht das nicht, da Bäume dort nicht wurzeln können. Ein ziemlich radikales vertikales Begrünungssystem für diese Standorte hat das Frankfurter Office for Micro Climate Cultivation, kurz OMC°C, in Zusammenarbeit mit Designer Stefan Diez, dem Büro Just Architekten und weiteren Partnern entwickelt: "VERD°System". Schnellwachsende einjährige Kletterpflanzen ranken im Frühjahr an Flachsnetzen, die in modulare Stahlrahmen gespannt sind, zehn Meter in die Höhe. Im Herbst, noch bevor die Blätter welken und fallen, werden Pflanzen und Netze demontiert und als Biomasse zum Beispiel in Dünger, Aktivkohle oder Energie umgewandelt. Wartung und Pflege sind bis auf das Einpflanzen der Setzlinge und Samen und das Ernten nicht nötig. Beides gehört zum VERD°Service, den OMC°C mitanbietet. Mittels Anschluss an einen Hydranten wird das System automatisch bewässert.

Die vertikale Begrünung spendet im Sommer Schatten, kühlt die Umgebung, bindet Feinstaub, mindert die Lärmbelastung und speichert CO2. Aufgrund der Ernte im Herbst entfallen der Aufwand für Rückschnitt und Laubbeseitigung. Die über den Sommer gewachsene Biomasse gelangt als neuer Rohstoff zurück in den Kreislauf. Der Vorteil gegenüber Bäumen: Die Konstruktion greift kaum in die bestehende Infrastruktur ein und wirft ihren Schatten bedeutend schneller als Bäume, die erst nach einigen Jahren eine Krone mit entsprechendem Durchmesser ausbilden.

Ein erster "VERD°"-Prototyp als freistehende Variante steht seit kurzem hinter dem Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main. Drei dieser großflächigen Pflanzensegel sind dort zu einer Konstruktion miteinander verbunden, die von oben betrachtet einem dreizackigen Stern gleicht. Ein 50 Zentimeter hoher kreisförmiger Betonsockel fasst das Ganze zusammen, macht es durch sein Gewicht sturmsicher und dient zugleich als Sitzgelegenheit. Innovative Stadtbegrünung sei auf alle Fälle ein Thema, sagt Hans-Georg Dannert, Leiter des Frankfurter Klimareferats. Verkehrsflächen, wozu auch Plätze zählen, machen immerhin rund 20 Prozent der Flächen einer Stadt wie Frankfurt aus. "Ich bekomme immer mal wieder Entwürfe auf den Tisch, die auf den ersten Blick spannend sind, beim genaueren Hinsehen aber eben doch noch nicht viel mehr als eine Idee." Bei 'VERD°' habe man dagegen schnell gemerkt, dass OMC°C sehr fundiert an das Projekt herangegangen sei. OMC°C, dahinter stehen die beiden Produktdesignerinnen Nicola Stattmann und Carlotta Ludig. Vor zweieinhalb Jahren begannen sie mit der Umsetzung ihres ambitionierten Projekts. "Die Idee hinter 'VERD°' ist simpel und einleuchtend, die Entwicklung bis hin zum serienreifen Produkt war dann doch etwas komplexer als die Einführung eines neuen Stuhls", erzählt Nicola Stattmann, die bereits seit 20 Jahren im Bereich Ecodesign zu Hause ist und zudem ein Label für nachhaltige Massivholzmöbel leitet.

Und so zögerten die beiden Gründerinnen nicht lange, sondern holten sich PartnerInnen mit viel Expertise ins Boot. Malte Just von Just Architekten war von Beginn an ein wichtiger Partner, wenn es um die Schnittstellen zu Städtebau und Architektur ging. Für das ausgefeilte Tragsystem konnte das renommierte Ingenieurbüro Bollinger+Grohmann gewonnen werden. Dieter Gaißmayer, eine Legende unter den deutschen PflanzenexpertInnen, zeichnet für die Recherche der passenden Rankpflanzen verantwortlich. Bei der Entwicklung der Pflanzkübel und der mechanischen Details der Anlagen unterstützte Stefan Diez mit seinem Team von Diez Office. "Als Nicola mich wegen dem Projekt angefragt hat, habe ich sofort zugesagt", erinnert sich Stefan Diez. "Ich kenne sie schon seit fast 20 Jahren und weiß daher, dass alles, was sie anpackt, Hand und Fuß hat. Und sie weiß, dass ich mich gerne mit Architekturelementen und systemisch-technischen Details beschäftige." Außerdem sei es ihm als Designer ein Anliegen, sich auch mit den zukünftigen Herausforderungen unserer Zeit auseinanderzusetzen. Um die Pflanzgefäße und die Netzbefestigung zu entwickeln, hat Stefan Diez intensiv mit Dieter Gaißmayer zusammengearbeitet. In seiner Gärtnerei haben sie Freiland-Tests mit verschiedenen Kletterpflanzenarten hinsichtlich Wurzelraum, Wasserbedarf und Windlasten gemacht. Die Pflanzgefäße bestehen aus recyceltem Kunststoff und werden im 3D-Druck produziert.

Beim Prototyp in Frankfurt am Main hängen sie auf drei Metern Höhe, als Schutz vor Vandalismus und aus Sicherheitsgründen, damit niemand an den Netzen hochklettern kann. Die zehn Meter Gesamthöhe ergibt sich einerseits aus der enormen Wuchsgeschwindigkeit der ausgewählten Pflanzen – schließlich möchte man im Herbst möglichst viel Biomasse ernten. Dies ist auch der Grund, weshalb in einen Rahmen jeweils Doppelnetze gespannt sind, an denen mehr Pflanzen emporranken können. Andererseits ist "VERD°" als Pflanzgestell bis zu einer Höhe von 9,99 Meter genehmigungsfrei. Die Statik muss natürlich trotzdem sitzen, allein schon wegen der Kipp- und Sturmsicherheit – eine ungewöhnliche Aufgabe für die Ingenieure des Büros Bollinger+Grohmann, die sonst die Tragwerksplanung großformatiger Hochbauten machen. Die Zusammenarbeit kam über Kontakte zu Just Architekten zustande.

"Obwohl das Projekt klein ist, ist es nicht unkomplex", sagt Philipp Eisenbach. Die Herausforderung: Die Konstruktion sollte modular, komplett zerstörungsfrei ab- und wiederaufbaubar und oberirdisch sein. Dazu traf ein relativ kleiner Grundriss von fünf Metern Durchmesser auf ziemlich viel Windangriffsfläche in sieben bis zehn Metern Höhe, was eine enorme Hebelwirkung verursacht. "Jede/r SeglerIn weiß, welche Windkräfte auf ein Segel – und als solches betrachten wir die Pflanzenwände – wirken können“, erklärt der Ingenieur. "Wir aber konnten keine zugfesten Fundamente im Boden verankern, keine Pfähle setzen, keine Haken, gar nichts." Der Betonring, bestehend aus drei baugleichen Modulen, der den "VERD°"-Prototyp nun am Umkippen hindert, ist knapp 18 Tonnen schwer. Das mag sich nach viel anhören, ist jedoch ein Gewicht, das die meisten öffentlichen Plätze und der Straßenraum aushalten, da diese in der Regel auf Schwerlastverkehr, zu dem auch Feuerwehrfahrzeuge gehören, ausgelegt sind. Die Schwierigkeit bestand in der Verbindung der drei Betonmodule. "Das sind ja keine Bauklötze, die man mal eben so hin und herschiebt. Das sind Schwergewichte, die an einem Kran hängen", so Philipp Eisenbach. Gelöst haben die Ingenieure das Problem mit einer Nutverbindung, durch die horizontal ein Bolzen geschoben wird.

Die Verbindung zwischen Betonring und Stahlrahmen war eine noch größere Herausforderung. Die Stahlrahmen werden dazu auf aus dem Beton ragende Bolzen gesteckt und festgeschraubt. Um die Verbindung kraftschlüssig herstellen zu können, mussten die Ingenieure, Stahl- und Betonbauer hier mit einem auf dem Bau unüblichen Toleranzbereich von wenigen Millimetern arbeiten. "An den Aufbautagen haben wir schon ein wenig geschwitzt, wann das Telefon klingeln würde mit der Info, dass die Teile nicht zusammenpassen", verrät Philipp Eisenbach. Jedes Bauteil ist auf eine lieferbare Größe wieder abbaubar. Das heißt, kein Bauteil ist breiter als drei Meter, sodass es per LKW transportiert werden kann. Es gibt auch keine Stoffschlüsse, keine vermörtelten Fugen oder verschweißten Stahlnähte, die wieder voneinander getrennt werden müssten. Für die lösbaren Schraubstöße ist Millimeterarbeit nötig. "Das haben wir vom Fundament weg konsequent durchgezogen. Da sind wir schon ein wenig stolz drauf", sagt Philipp Eisenbach.

Der Ingenieur sieht "VERD°" als temporäres, auf- und abbaubares Bauwerk, das zum Beispiel als Zwischenlösung auf freiwerdende Bauplätze in der Stadt gestellt werden kann. Hans-Georg Dannert vom Frankfurter Klimareferat sieht VERD° eher als festes Stadtmobiliar, das man im Winter auch als Teil von Marktständen oder als Gerüst für Weihnachtsdekoration nutzen könnte. Stefan Diez sieht in dem Projekt vor allem das Potenzial. Aufgrund der drei Meter lichten Höhe könne man "VERD°" auch quer über Parkplätze oder Fahrbahnen spannen. "Bei dem Prototyp mit Betonsockel handelt es sich um die freistehende Variante", bestätigt Carlotta Ludig von OMC°C. "Aber es sind natürlich auch andere Varianten denkbar. Aktuell sind wir dabei, eine Version zur Befestigung an Fassaden zur Abkühlung von Gebäuden zu entwickeln."

Der Prototyp in Frankfurt steht jetzt erst einmal unter Beobachtung. Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung wird die Anlage hinter dem gleichnamigen Museum für drei bis fünf Jahre nutzen, um die Insekten, die sich dort ansiedeln zu bestimmen und so den Einfluss des Begrünungssystems auf die Biodiversität in Städten zu erforschen. Der Deutsche Wetterdienst plant ab August Messstationen an der Anlage zu installieren, um Temperatur, Feuchtigkeit und Windstärke in unterschiedlichen Höhen zu messen, um das Mikroklima um die Anlage herum zu untersuchen. Was mit der Biomasse im Herbst genau geschieht, ist noch nicht ganz klar, aber OMC°C wird dafür sicherlich AbnehmerInnen finden.

VERD°-Testanlage:
Hinterhof Senckenberg Naturmuseum
Senckenberg Anlage 25
60325 Frankfurt am Main