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Vor und hinter dem Vorhang
von Thomas Wagner | 10.01.2010
All photos © Dimitrios Tsatsas, Stylepark

Textilien sind in der Architektur vielseitig einsetzbar, und das nicht erst in der Gegenwart. Doch selbst wer das geahnt hat, der kann sich die Vielfalt und die Raffinesse möglicher, auch historischer, Anwendungen nur schwer vorstellen, zumal in den letzten Jahren neue Materialien das Spektrum erheblich erweitert haben. Sowohl was die Fülle anregender Beispiele angeht, als auch hinsichtlich neuer Gestaltungsmöglichkeiten, schafft der Band „Textile Architektur" von Sylvie Krüger nun Abhilfe. Ob als Baustellenplane oder Zelt, als Schirm oder Fassade, Raumteiler oder Sichtschutz, ob aus Naturfasern oder High-Tech-Folie - Textilien sind aus der Architektur nicht wegzudenken. Auch wenn sie seit Beginn der Sesshaftigkeit zunächst an Bedeutung verloren haben mögen, so überdauert in ihnen doch auch ein Stück nomadisches Denken, dessen Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit heutzutage wieder gefragt ist. Denn Textilien im Gebäude passen sich an, sind leicht, transparent oder blickdicht, zart oder voluminös, sie bieten Schutz vor Sonne, Wind und Kälte, sie dämpfen Geräusche und bilden manchmal sogar so etwas wie eine externalisierte zweite Haut.

In drei Kapiteln, die zwischen vertikalen, horizontalen und dreidimensionalen textilen Raumabschlüssen unterscheiden und jeweils von einem knappen, aber informativen „Historischen Überblick" eingeleitet werden, findet der Leser zahlreiche und gut bebilderte Hinweise, wie und wo Textilien beim Bauen eingesetzt werden können. Auch wird präzise zwischen verschiedenen Einsatzmöglichkeiten unterschieden. So erfährt man etwa in der historischen Einleitung zum Kapitel „Vertikaler Raumabschluss", dass unter einem „Außenvorhang" Textilien verstanden werden, die „im Außenbereich vertikal ein Gerüst oder eine Gebäudefassade komplett oder teilweise verhüllen", dass eine so genannte „Vorhangwand" sich hinter großflächigen Glasfassaden befindet und „Schutz vor Licht und Einblick" bietet.

Mies van der Rohe etwa setzte - im 1929/30 erbauten Haus Tugendhat ebenso wie im 1950/51 entstandenen Farnsworth House - gern Vorhänge ein, um einem Gefühl der Verlorenheit vorzubeugen, das sich besonders bei Nacht einstellen kann, wenn die Glasfassaden als schwarze, das Innere reflektierende Flächen erscheinen. Oder man erfährt, dass am Sassanidenhof der König durch einen Vorhang verborgen wurde, der sich bei Audienzen wie in einem Theater öffnete, also benutzt wurde, um einen Wechsel von Entrückung und Erscheinung der Macht zu inszenieren. Neben der Funktion textiler Materialien als flexible Raumteiler, zu denen auch die mit Reispapier bespannten Schiebewände in traditionellen japanischen Häusern zählen, können diese auch einen „Raum im Raum" schaffen, wie man ihn von mittelalterlichen Bettvorhängen oder aus der Ausstellungsarchitektur kennt. War der vertikale Raumabschluss mittels Textilien in der Vergangenheit oftmals ein Mittel der Repräsentation, so dient er heute, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich, vor allem der Isolierung und der Heizung, dem Sichtschutz und der variablen Raumgliederung.

Die im Bildteil vorgestellten und mittels knappen Bildlegenden erläuterten Beispiele reichen von Vorhängen in Spanien, die Hitze abhalten, bis zu Shigeru Bans „Curtain Wall House", von Vorhängen, die aus Anlass der Ausstellung „Inside Outside" im deSingel in Antwerpen mit Grasstrukturen bedruckt wurden, dem Einsatz von Trennvorhängen in einer Sporthalle, wie sie die Architekten Allmann Sattler Wappner beim Bau der Paul Horn-Arena in Tübingen eingesetzt haben, bis zu den textilen „Ziegeln", die Ronan und Erwan Bouroullec für den Showroom des Textilherstellers Kvadrat in Stockholm entwickelt haben.

Der Schwerpunkt liegt - auch wenn hier und da andere Beispiele einbezogen werden - eindeutig auf architektonischen Anwendungen, was erklärt, dass die künstlerische Verwendung von Textilien - etwa in den Gebäudeverpackungen oder Land art-Projekten von Christo und Jeanne-Claude - nur im historischen Teil erwähnt oder gelegentlich im Bildteil eingestreut wird.

Neben gleichsam „klassischen" Textilien werden auch Folien und Membranmaterialien vorgestellt, die „textile" Funktionen übernehmen können. Hier reicht das Spektrum von Massimiliano und Doriana Fuksas' Zenith Musikhalle in Straßburg, deren Baukörper von einer 12.000 Quadratmeter großen, aus fünf ellipsoiden Ringen bestehende Hülle aus silikonverstärktem Glasfasergewebe umfangen wird, die nachts wie ein riesiger Lampion leuchtet, bis zur transluzenten Haut aus in verschiedenen Farben leuchtenden Folienkissen der Münchner Allianz Arena von Herzog und de Meuron.

Hinzu kommen Schirme und Baldachine als bewegliches und temporär einsetzbares Dach, wie es beispielsweise Jürgen Mayer H. 2003 auf Initiative von Stylepark und in Kooperation mit Nya Nordiska anlässlich der ISCID-Konferenz im Atrium des Ernst-August-Carrés in Hannover realisiert hat. Aber auch zeitgenössische Zelt- und Pavillonarchitektur von Frei Ottos und Rolf Gutbrods Deutschem Pavillon der Weltausstellung 1967 in Montreal bis zu organoid oder technoid geformten pneumatischen Strukturen wie dem „Prada Transformer" von AMO in Seoul.

So trifft zu, was die niederländische Designerin Petra Blaisse in einem Interview feststellt, das die Autorin mit der Spezialistin für Textildesign, Landschaftsgestaltung und Ausstellungsarchitektur, die 1991 in Amsterdam das Büro „Inside Outside" gegründete, geführt hat: „In der Architektur gewinnen Textilien gegenwärtig also klar an Bedeutung - und nicht unbedingt nur im dekorativen Sinn."

Sylvie Krüger, Textile Architecture. Textile Architektur. Jovis Verlag, Berlin 2009, 208 Seiten, gebunden

All photos © Dimitrios Tsatsas, Stylepark