Ein „Design-Atlas", dessen Autor, nimmt man den Titel und die Bildsprache dahinter wörtlich, irgendwo in Atlantis verortet sein muss: Weder in der Publikation, noch auf der Website des Dumont Verlages, in dem die Geschichte des Designs „von 1850 bis heute" erschienen ist, finden sich biografische Angaben zu Enrico Morteo. Das ist schade - und eine nahezu unverzeihliche Nachlässigkeit der deutschsprachigen Ausgabe des 2008 im Mondadori Verlag unter dem Titel „Grande Atlante del Design" erschienenen Nachschlagewerks. Nicht nur, dass Morteo (51), Architekt, Kulturwissenschaftler und Journalist, Berater des World Design Capital Turin 2008 war, und dort gemeinsam mit Manolo de Giorgi eine Ausstellung über Olivetti kuratierte, er hat zudem bereits einige Bücher zu Themen der Designbestimmung, beispielsweise über Roberto Sambonet, verfasst. Nun also der 424 Seiten starke Design-Atlas, der zunächst einmal suggeriert, zu bestimmen, zu kartografieren und die Dinge auszuloten. „Alles ist Design. Die Kleider, die wir tragen, die Stühle, auf denen wir sitzen, die Apparate, die wir benutzen, die Autos, mit denen wir von A nach B fahren - sämtlich Produkte des modernen Industriedesigns", so beginnt der Autor seine Einführung in die Welt der Dinge und die Lebenswelt des Menschen, wie das Kapitel betitelt ist. Und diese Lesart ist es, die das Buch vom Lexikon zum Atlas werden lässt. Morteo reiht nicht nur die Dinge, von denen er selbst sagt, sie seien partiell seiner persönlichen Vorliebe zu verdanken, also allemal Sitzmöbel, aneinander. Er setzt diese in einen größeren Zusammenhang und schenkt ihnen so einen Rahmen, in dem sie sich bewegen. So kommt es, dass dem Leser Alvar Aalto und seine prägenden Entwürfe nicht nur in einer Erläuterung der zur Ikone gewordenen Vase „Aalto" (Savoy) unterkommen, sondern zugleich in den Beiträgen über Artek und in einer Abhandlung über den Sessel für das Sanatorium von Paimio zu finden sind. Das macht das stringente Lesen um einiges spannender, kann bei Querlesern jedoch zu Lücken führen. Die Inseln, von denen aus Morteo startet, unterteilen sich in „Die Anfänge" (1815-1918), „Avantgarden und Pioniere" (1919-1939), „Neuer Optimismus" (1940-1964), „Utopien und Wohlstand. Vom Brauchen zum Wünschen" (1965-1984) sowie „Jenseits der Moderne. Design als Dienstleistung" (1985-2005). Der Schwerpunkt der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den rund 600 Dingen liegt zeitlich klar im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in dem viele der heute noch gültigen Designklassiker ihren Gestaltungsursprung hatten. Ebenso stellt der Autor das europäische und US-amerikanische Design gegenüber, und erläutert an vielen Stellen die Unabdingbarkeit mancher Entwicklungen, indem er sie in einen größeren Kontext stellt, wie unter anderem die Stellung der amerikanischen Luftfahrtindustrie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das füttert den Leser mit historischen Informationen, ohne ihn damit aus dem Konzept zu bringen oder zu überfordern. Eine Öffnung zum Crossover und der heutigen Designdiskussion wäre dort spannend geworden, wo das Buch endet, denn das letzte Kapitel findet leider nur auf 56 Seiten statt und setzt seinen Schlusspunkt - nicht mit den Ikonen des 21. Jahrhunderts, dem iPod und/oder iPhone -, sondern zur Überraschung und Verwirrung des Lesers mit einer Banane und einem BigMac (den der Verlag auch als eines von neun Produkten auf das deutsche Cover gesetzt hat) unter der Überschrift „Basic Design". Hier scheint mit Enrico Morteo leider der Kulturwissenschaftler durchgegangen zu sein, denn die Diskussion, die er dort mit den Schlagworten Nahrungsmitteldesign und Künstlichkeit aufmacht, markiert eher den Beginn eines neuen Buches als den Schlusspunkt unter ein ansonsten gut gelungenes Kompendium. Design-Atlas von 1850 bis heute
von Enrico Morteo
Paperback, 424 Seiten, Text deutsch
Dumont, 2009
24,95 Euro
Wissen um und über die Welt der Dinge
von Silke Gehrmann-Becker | 09.10.2010
Alle Fotos © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Alle Fotos © Dimitrios Tsatsas, Stylepark