Neue Häuser braucht das Land!
Solche Fragen bekommen Architekten nicht besonders oft gestellt, ganz besonders nicht in Nordhessen: „Könnten Sie uns statt drei Häusern auch 20 bauen?“ Aber genau das war die Reaktion des Bürgermeisters von Waldeck, als sich der Architekt Christoph Hesse mit einem Projektentwickler bei ihm vorstellte, der in der Gemeinde eigentlich nur zwei oder drei Häuser für die eigene Familie und Freunde bauen wollte. Die hessische Kleinstadt liegt knappe 50 Kilometer westlich von Kassel und mitten in einer idyllischen Landschaft. Südlich beginnt der ausgedehnte Naturpark Kellerwald-Edersee, der zum Weltnaturerbe der UNESCO zählt. Von der 48 Meter hohen Talsperre direkt neben der Stadt an staut sich hier die Eder zu einem großen, gewundenen See, dem Ederstausee. In einem der Flussmäander liegt die Halbinsel Scheid, auf der sich neben einem alten Bauernhof, Wäldern und Wiesen ein paar kleine Häuser verteilen. Hier wollte der Projektentwickler seine Häuser bauen - und der Bürgermeister schlug stattdessen eine kleine Siedlung vor.
„Ich habe schon gestaunt, als er das vorschlug“, erzählt Christoph Hesse. Der Gemeinde aber ist der Vorschlag ernst, denn ihr gehört das große Gelände einer ehemaligen Meierei an der Inselspitze und das soll nun entwickelt werden. Nur: für wen? So schön die Landschaft hier ist, die Region verliert schon seit Jahrzehnten kontinuierlich Einwohner. Besonders die Jungen wandern in die Städte ab und nur wenige kommen zurück.
Hesse sagt zu. Gleichzeitig ist ihm klar, dass er nicht alleine 20 Entwürfe machen möchte. „Egal, wie man sich müht, das hätte doch immer den Hang zu einer zu monotonen, zu homogenen Struktur. Es kam mir einfach nicht richtig vor.“ Er telefoniert zunächst mit einem ehemaligen Kommilitonen, den er während seiner Zeit an der Harvard Universität kennen lernte: Neeraj Bhatia, der zwischen Toronto und San Francisco pendelt und sein eigenes Büro „The Open Workshop“ betreibt. Gemeinsam entwickeln sie die Idee für „Ways Of Life“, ein Projekt, das 20 Architekturbüros aus der ganzen Welt nach Waldeck eingeladen hat, um dort Häuser für neue Lebensformen zu entwickeln.
„Grundsätzlich geht es darum“, sagt Hesse, „dass es heute keine so starke Trennung zwischen Stadt und Land mehr gibt, das man entweder hier oder dort lebt. Das Leben auf dem Land ist durch die neuesten Technologien längst enorm fortschrittlich geworden, wir können hier nicht nur gut und naturnah wohnen, sondern auch in internationalen Kontexten und Zusammenhängen arbeiten wie noch nie zuvor.“ Dafür liefert Christoph Hesse selbst das beste Beispiel, der in Zürich und den USA studierte, bei Christoph Mäckler und David Chipperfield in Frankfurt, London und Berlin arbeitete – und heute sein eigenes Büro im beschaulichen Hansestädtchen Korbach führt, kaum zwanzig Autominuten von der Halbinsel Scheid und Waldeck entfernt.
Er weiß das Leben auf dem Land zu schätzen – und nimmt trotzdem Einladungen aus der ganzen Welt an. „In einer halben Stunde bin ich von hier aus in Kassel und in drei Stunden in Berlin. Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass ich hier auf dem Land irgendwie abgehängt bin oder etwas verpasse.“ Da soll „Ways of Life“ ein anderes Bild vom modernen Leben auf dem Land liefern. „Es wäre schön, wenn unser Projekt auch für politische Entscheidungsträger eine Inspiration sein könnte“, sagt Hesse. „Damit sie sehen, dass ein Mehr an architektonischen Freiheiten zu einer Bereicherung der Landschaft und der Dörfer führen kann. Vielleicht würden die Kommunen dann öfter so mutig sein wie Waldeck und hier und dort über die Strenge ihrer Gestaltungssatzungen neu nachdenken.“
Hesse und Bhatia setzten sich zusammen und erstellten eine Liste von befreundet und bekannten Büros, die ihnen für diese Aufgabe kompetent erschienen. Darunter sind bekanntere Büros wie Jürgen Mayer H. (Berlin) oder Anna Heringer, Pezo von Ellrichhausen aus Chile, Tatiana Bilbao aus Mexiko, KWK Promes aus Polen oder Dogma aus Belgien - aber auch viele weithin Unbekannte wie Atelier Alter (China), SsD (Korea), RICA* (Spanien/USA) oder Penda (Österreich/China). Eine bunte Mischung, von der sich die beiden Organisatoren vor allem eine große Vielfalt an unterschiedlichen Antworten erwarteten.
Die Vorgaben für die Entwürfe waren locker. Es ging vor allem darum, experimentelle und innovative Hausformen anzubieten, die aber dennoch realistisch zu bauen sein sollten; das hieß insbesondere, auf das Baubudget zu achten und auch relativ umweltverträgliche Bauweisen und Materialien anzubieten. In den 20 Entwürfen sieht man nun, dass dies manchmal besser und manchmal schlechter gelungen ist - und manche Architekten einfach gar nicht interessiert hat. Nur eine Vorgabe wurde von allen befolgt: größer als 90 Quadratmeter durfte keiner der Entwürfe werden. Bislang waren auf der Halbinsel sogar nur Häuser mit maximal 65 Quadratmeter zulässig, für „Ways of Life“ wurde das nun eigens aufgestockt.
Dass einige der Entwürfe eher gezeichnete Manifeste sind sieht Christoph Hesse natürlich auch. „Das finde ich okay. Es sollten ja Experimente sein, Statements zum Thema ‚Neues Leben auf dem Land‘. Da dürfen einige gerne mit ein bisschen Augenzwinkern zum Nachdenken anregen. Interessant finde ich, dass wir ja bereits mit einigen Bauherren gesprochen haben und alle haben die Entwürfe genau so verstanden. Da wurde keiner abgeschreckt, sondern die wollen wissen, welche Gedanken hinter den Zeichnungen stecken.“ Ideal wäre es, so Hesse, wenn sich nun zu jedem der 20 Architekten-Statements ein interessierter Bauherr fände. „Einige Entwürfe werden sich dann im Dialog zwischen Bauherren und Architekten noch verändern, denn die Bauherren werden ja Wünsche und Ideen mitbringen“, gibt sich Hesse realistisch. „Wir werden sehen, wie kompromissbereit die Architekten dann sein können, um die Entwürfe zwar anzupassen, aber nicht ihren Kern aufzugeben. Denn dann würde das Ganze ja keinen Sinn mehr machen und die Bauherren könnten genauso gut woanders ganz nach ihren eigenen Wünschen bauen.“ Auch das einige der Entwürfe vielleicht keinen Bauherren anlocken können, ist Teil der Rechnung. „Umso erstaunlicher fanden wir es, wie radikal einige der Entwürfe trotzdem sind“, sagt Hesse. Und jedenfalls soll es am Schluss nicht so sein, dass doch nur einige wenige Büros alle 20 Häuser entwerfen. „Es geht uns um die Vielfalt an Häusern in dieser einmaligen Lage“, so Hesse, „also können nicht 15 Bauherren den gleichen Entwurf mit demselben Architekten errichten.“
Es ist ein großes, mutiges Experiment - und wie alle Experimente mit einem noch recht ungewissen Ausgang. Es könnte auch schiefgehen. Die Gemeinde stellt derzeit jedenfalls den Bebauungsplan für das Gebiet neu auf, um die rechtlichen Baugrundlagen zu schaffen. Die 20 Entwürfe werden ab dem 5. Juli 2017 in Kassel im Rahmen der Experimenta Urbana, einer Nebenveranstaltung zur Documenta, gezeigt und diskutiert werden. Aus seinen Vorgesprächen hat Christoph Hesse bislang „so etwa sechs oder sieben“ ernsthaft interessierte Bauherren gefunden, die werden am Rande der Ausstellungseröffnung auch erstmals auf die Architekten treffen - so wie viele der internationalen Architekten dann erstmals die Halbinsel Scheid selbst in Augenschein nehmen werden, denn eine gemeinsame Begehung des Ortes war bislang noch nicht möglich.
Das erklärt vielleicht auch die leicht ätherische Stimmung in einigen der Renderings. Die wirken teilweise doch recht losgelöst, obwohl jeder Architekt ein bestimmtes Grundstück zugewiesen bekommen hatte und insbesondere auch auf die besondere Topographie der Insel eingehen sollte; denn durch den mal höheren und mal niedrigeren Füllstand des Stausees ist die Landzunge mal eine Insel im Wasser und manchmal eher ein Hügel über dem See. „Es ist ein bisschen ein Arkadien“, sagt Hesse, „im Sommer stehen da Pferde auf den Wiesen. Diesen Eindruck wollen wir mit dem Projekt auf jeden Fall erhalten, deswegen soll das Gebiet auch weiter öffentlich bleiben und keine gated community werden. Zäune und Hecken haben wir grundsätzlich erst einmal nicht vorgesehen.“ Aber auch hier wird man sehen, wohin die Verhandlungen mit allen Beteiligten führen werden – und was die Bewohner der Häuser zu ihrer Zaunlosigkeit wohl sagen werden, wenn erst einmal die Architekturtouristen aus aller Welt herbeiströmen, um die sensationellen Häuser zu fotografieren, die hier das Leben in ländlicher Einsamkeit neu definiert haben. Oder ob dann sowieso alle Häuser bereits besonders attraktive Angebote auf den einschlägigen Ferienhaus-Portalen für Architekturliebhaber geworden sind.
„Das ist jedenfalls nicht unsere Idee“, sagt Hesse. „Wir wollen ernsthaft interessierte Bauherren finden, die in diesen Häusern wirklich leben wollen. Das soll keine Ferienhaussiedlung als Geldanlage werden, bei deren Häusern die Hälfte des Jahres die Jalousien geschlossen bleiben.“ Aber Hesse weiß auch, dass nicht alles an so einem Projekt kontrollierbar oder planbar ist. Wenn weiterhin alles so gut läuft, dann soll ab 2018 gebaut werden. „Idealerweise würden wir eine erste Phase von sieben bis zehn Häusern bauen“, sagt Hesse. „Dann könnten wir in einer späteren zweiten Phase noch auf erste Erfahrungen reagieren.“ Die ersten Häuser könnten also bereits 2019/2020 fertig werden.
Das Projekt "Ways of Life" wird im Rahmen der Experimenta Urbana in Kassel ausgestellt und diskutiert.
Ausstellungseröffnung und Kurzvorträge internationaler Architekten:
5. Juli 2017, ab 19 Uhr im Kulturbahnhof Kassel
Ausstellung Ways of Life
vom 5.-30. Juli 2017:
Südflügel des Kulturbahnhofs Kassel
Rainer-Dierichsplatz 1, 34117 Kassel
vom 1. August bis 17. September 2017:
Universität Kassel, Foyer Neubau ASL-Gebäude,
Universitätsplatz 9, 34127 Kassel