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RETAIL
Einkaufen in den 70igern

AIM Architecture hat für den chinesischen Kosmetikeinzelhändler Harmay in Hangzhou eine Innenarchitektur entworfen, die wie eine Zeitreise in die farbenintensiven Bürolandschaften der 1970er Jahre anmutet.
von Anna Moldenhauer | 04.03.2022

Wer heute im Retail noch beeindrucken möchte, muss sich etwas Besonderes einfallen lassen – können doch die meisten Produkte mittlerweile recht komfortabel und schnell im Internet bestellt werden. Nimmt man sich die Zeit, in einem Laden Luxusartikel wie Kosmetik einzukaufen, sollte dieser etwas bieten, was Webseiten nicht oder nur bedingt leisten können: Inspiration über die Inszenierung der Räume und ein Beratungsangebot seitens der VerkäuferInnen. AIM Architecture hat bereits einige sehenswerte Retail-Konzepte für den chinesischen Kosmetikanbieter Harmay realisiert. Dieser startete als Onlinehändler und beschloss trotz der unsicheren Zukunft des Einzelhandels auch physische Verkaufsstellen zu eröffnen. Allen Konzepten von AIM Architecture für Harmay ist gemein, dass man zweimal hinschauen muss, bis man erkennt, dass in den bühnenreifen Innenarchitekturen Produkte zum Verkauf angeboten werden. Wenn der jeweils unauffällig gehaltene Eingang zum Shop erst einmal gefunden ist, öffnet sich eine kreative Kulisse für die BesucherInnen, die bis in die Details zu einem bestimmten Thema gestaltet wurde – sei es der in Asien verbreitete "Wet Market" auf denen Fleisch und Fisch verkauft wird oder die Großküche eines Hotels.

Für den Standort im OōEli-Komplex der chinesischen Millionenstadt Hangzhou nahm das Team von AIM Architecture die Ästhetik eines Büros aus den 1970er-Jahren zum kreativen Ausgangspunkt: Passenderweise im zweiten Stock eines Bürobaus gelegen, eröffnet sich nun auf 1.382 Quadratmetern eine Landschaft in Senfgelb, Rostrot, Schokoladenbraun und Cognac: Platziert auf der durchgehenden Auslageware sind die zu Schminkstationen umgebauten Schreibtische hintereinander aufgereiht und angelehnt an das zu jener Zeit oftmals verwendete Cubicle-System der Arbeitsplatzanordnung. Wände aus Ornamentglas trennen eine Gemeinschaftszone ab, während die strukturierenden Farbflächen von linienförmigen Elementen aus Aluminium aufgelockert werden. Tische aus dunklem Holz sind mit limettengrünen Regalsystemen samt abgerundeten Ecken kombiniert. Dank abgehängter Decken in derselben Farbe entstehen kleine Präsentationsbuchten, die wie aus einem Guss wirken. Enge Flurstrukturen, durch bodentiefe Spiegelflächen in ihrer Flucht verstärkt, münden in Wandverkleidungen aus Teppichboden. Klare, industriell anmutende Linien und runde Säulen aus Beton werden mit bullaugenförmigen Aussparungen kontrastiert. Durch Letztere kann man in das interne Transitlager schauen und blickt so von der Vergangenheit in die Gegenwart. Der Ästhetik zuliebe haben die InnenarchitektInnen auf eine in den 1970er-Jahren beliebte experimentelle Musterung der textilen Flächen verzichtet. Die farbintensive Retro-Ästhetik vermittelt zwar den Geist der Zeit, lenkt aber die KundInnen nicht zu sehr mit optischen Reizen vom Verkaufsangebot ab.

AIM Architecture ist es über das Zusammenspiel von Farbe und Struktur perfekt gelungen, die Atmosphäre eines Großraumbüros der 1970er einzufangen, so dass man im Geiste die Schreibmaschinen klackern und die analogen Telefone klingeln hört – ein Blick zurück in eine Dekade, in der das Mobiltelefon gerade erst erfunden und von der Markteinführung Jahre entfernt war, ebenso wie der Personal Computer oder das Internet. Adressen suchte man noch umständlich aus dicken Telefonbüchern oder vollgestopften Rollkarteien, Fehler in Dokumenten wurden mit Tipp-Ex korrigiert, der Stempelträger war auf jedem Schreibtisch ein wichtiges Utensil und der Taschenrechner ein futuristisches Gerät. Hier einkaufen zu gehen fühlt sich wahrhaftig wie eine Zeitreise an – nur dass die angebotenen Produkte aus der Gegenwart stammen und sicher auch ein modernes Kartenlesegerät hinter der walnussfarbenen Holzverkleidung des Kassencounters verborgen ist.