Blickpunkt: Architektinnen – Aline Hielscher
Ganz zum Ende unseres Gesprächs kommt Aline Hielscher dann doch ins Schwärmen. Und zwar als wir auf Alvar Aalto zu sprechen kommen und auf die beiden Frauen, die den finnischen Architekten begleitet und die jeweils gemeinsamen Arbeiten maximal geprägt haben, Aino und Elissa. Die Art und Weise, wie hier Architektur und Design zu einem Werk verschmilzt, wie mit Artek gar ein eigener Herstellungsbetrieb lanciert wurde, beeindruckt Aline Hielscher bis heute. "Die drei und ihre Arbeiten sind eine ganz große Inspiration. Die Gebäude, die sie geschaffen haben, sind auf so eine wunderbare Weise – im Französischen gibt es das schöne Wort –: 'humble'. Selbst wenn es eine Villa wie die Maison Carré betrifft." Bis ins Detail beschreibt Hielscher den Bau, der nach Plänen von Elissa und Alvar Aalto zwischen 1956 und 1963 in Bazoches-sur-Guyonne bei Paris realisiert wurde. Natürlich könne man kritisieren, dass es sich dabei um das Haus eines reichen Kunsthändlers handle, so Hielscher, "aber das Gebäude an sich, von der Art und Weise, wie es dort am Ort platziert und landschaftlich eingebunden ist – auch mit dem Pool –, über seine Dachform und die Anordnung der Zimmer bis zu den Details, das ist alles sehr nah an Perfektion. Eigentlich ist das Haus als Ganzes ein Kunstwerk."
Diese Art über Architektur nachzudenken, als Zusammenspiel von Landschaft, Raum und Design, ist in den Arbeiten von Aline Hielscher und ihrem Team in einer vergleichbaren Weise erkennbar. Nicht dass die Tochter eines Maschinenbauers und einer Apothekerin reihenweise Referenzen an die Aaltos realisieren würde, nein, vielmehr findet sich in den Projekten des Büros, das seit 2016 in Leipzig ansässig ist, eine vergleichbare Denkweise, die die architektonischen Grundlagen von Material, Form und Konstruktion zu einem ganzheitlichen Raum zusammenbringt, dessen Zweck sich nicht allein in der Funktionserfüllung erschöpft, sondern immer auch im Stande ist, bestimmte Atmosphären zu kreieren. So sind seit Bürogründung verschiedene Wohnprojekte und Kindertagesstätten entstanden, das Büro ist im Neubau, wie im Bauen mit Bestand tätig.
Dass es so weit kommen sollte, ist dabei zu Beginn jedoch nicht absehbar. Freie Kunst oder Modedesign sind die Interessen der in Sachsen-Anhalt aufgewachsenen, gebürtigen Leipzigerin. Doch statt Modedesign in Berlin-Weißensee zu lernen, nimmt sie das Studium der Innenarchitektur in Heiligendamm auf. "Während der dreitägigen Aufnahmeprüfung in Weißensee sagte einer der Professoren zu mir, dass ich hier nicht richtig sei, ich zeichne doch ständig irgendwelche technische Dinge und solle deswegen überlegen, ob ich nicht vielleicht lieber umdenken wolle", erinnert sich Aline Hielscher und fügt lachend an: "Diesem Mann bin ich eigentlich sehr dankbar." Bei der Rückfrage, warum sie denn nicht direkt Architektur studiert habe, wird sie ernst und konstatiert: "Ich habe mir das damals schlichtweg nicht zugetraut – was wahrscheinlich so ein Frauenthema ist." Sie studiert also zunächst Innenarchitektur und traut sich die Architektur dann doch noch zu. Ausschlaggebend ist ein Praktikum in Paris. Für ein kleines französisches Büro wird sie damit betraut, ein Multiplex-Kino zu planen. "Da habe ich verstanden, dass das irgendwie alles okay ist, was ich denke und mache, dass es funktioniert." Nach dem erfolgreich abgelegten Diplom in Innenarchitektur beginnt sie Architektur zu studieren, auch das erfolgreich: am Ende des Architekturstudiums an der TU Dresden und der FH Potsdam steht eine Diplomarbeit, die 2003 beim bundesweiten Bruno-Taut-Preis Berlin eine Anerkennung erhält.
Nach der Mitarbeit in den Büros von Marc Mimram und Dominique Perrault beginnt Aline Hielscher sich in Paris selbstständig zu machen. Erste kleine Wohnungsumbauten entstehen, die bereits viel über ihren Ansatz einer ganzheitlichen Gestaltungsidee verraten. So realisiert Hielscher ein beeindruckend reduziertes Mikroappartement in einem Hinterhof im 18. Arrondissement. Schon der immense Kaufpreis der Wohnung deckelt das Budget für die Umbaumaßnahmen. Kaum mehr als 20 Quadratmeter misst die Wohnfläche hier, unweit von Montmartre, insgesamt. Hielscher entwickelt eine Art frühes Suffizienzprinzip, bei dem die Eingriffe so gering wie nötig und der Nutzen für das Wohnen so groß wie möglich sind. Eine kompakte Küche bildet den räumlichen Auftakt, auf ihr findet sich, über eine steile Stiege erschlossen, das Bett. Stauraum wird an der gegenüberliegenden Wand des einseitig belichteten Raums in einer homogenen, raumhaltigen Wandschale eingerichtet, die sich wie eine zweite Haut vor die bestehende Mauer stellt. Durch diesen Wandschrank im wahrsten Sinne des Wortes ist auch das kleine Duschbad erreichbar. Alles hier ist auf maximale Weise reduziert, sodass Raum entsteht, der von der Nutzerin frei bewohnt werden kann, die Eingriffe nehmen sich ebenso zurück, wie die gewählte Formensprache, auf dass das Wohnen im Mittelpunkt steht und nicht die Architektur, die dafür den Raum bietet.
Doch dauerhaft derlei Projekte zu bearbeiten, stellt sich als wirtschaftlich nicht auskömmlich dar. Nach verschiedenen Wettbewerbsteilnahmen und gemeinsamen Projekten mit dem Partnerbüro Atelier Kempe Thill aus Rotterdam zieht es Hielscher 2016 wieder in ihre Geburtsstadt. "Es war nach der Weltläufigkeit und den verschiedenen Kulturen, auf die ich Paris getroffen war, schon komisch wieder hier zu sein", sagt Hielscher, die ihre ersten Lebensjahre in einem Plattenbau in Leipzig Grünau verbracht hat. Mit fünf Mitarbeitenden arbeitet sie inzwischen in Leipzig. Ein eindrückliches Beispiel für den sensiblen Umgang mit immer wieder auch unsensiblem Bestand, ist die Kindertagesstätte die Hielscher und ihr Team zwischen 2020 und 2023 in einer ehemaligen Telefonzentrale in Merseburg eingerichtet haben. Vergleicht man die Bilder, die vor den Baumaßnahmen entstanden, mit denen des fertigen Projekts, ist gleichermaßen erstaunlich, was hier gelungen ist und wie die heutigen Räume schlicht als folgerichtige Entwicklung des Bestandes wirken.
Das Projekt erscheint als frappierend logische Transformation. Die Struktur des in Teilen um ein Geschoss ins Erdreich reichenden Gebäudes nimmt die Architektin auf, schreibt sie um und etabliert so eine Raumfolge, die für die Belange eines Kindergartens funktioniert, auch weil sie dabei die sich im inneren ergebende Zweigeschossigkeit übernimmt. Durch die hellen Hölzer der neuen Einbauten für Garderoben, Regale, Rutschen, Treppen und Podeste ergibt sich ein ebenso robustes wie freundliches Inneres. Dabei sind die Räume immer noch in gewisser Weise rau, auf den Wänden verlegte Leitungen und aus dem Industriebau stammenden Leuchten erinnern subtil an den ursprünglich technischen Zweck des Hauses, stehen seiner heutigen Funktion aber offenkundig nicht im Wege. Das helle Apricot der neuen großen Fenster mit ihren Öffnungsklappen für die Belüftung, das die Fassade nach dem Eingriff prägt, wird im Innern in der Fliesenfarbe der Bäder aufgenommen und stellt so eine unterschwellige formalästhetische Verwandtschaft zwischen innen und außen her.
Ohne dass es die Idee einer "Aline Hielscher Architektur"-spezifischen Formensprache im Sinne einer formalen Markenbildung gäbe, ist im Laufe der Zeit doch eine Art Wiedererkennungswert entstanden. Da sind zum einen die Industrieleuchten, ein Produkt aus dem Elsass, zum anderen das Holz und die Pastelltöne der verwendeten Farben. Sie sind neben dem satten Cyan, das das Büro nicht nur für das eigene Logo, sondern auch für die Markierung der Projekte in Lageplänen immer wieder verwendet, eine deutliche Konstante im gebauten und entworfenen Werk. "Ergebnis von vielen Recherchen, Einflüssen und Begegnungen" sei das, so Hielscher. "Wir machen ja eine recht schnörkellose Architektur," bekennt die Architektin, "aber trotzdem sollen die Räume nicht kalt und unemotional sein." Das geht auf, wie beispielsweise die Quartierskita in Leipzig oder die in einen Plattenbau eingefügte Kindertagesstätte in Halle an der Saale sowie verschiedene Wohnbauten beweisen, die das Büro in den letzten Jahren realisieren konnte. Dabei wird klar, dass hier nicht nur eine Architektin, sondern eben auch eine ausgebildete Innenarchitektin mit einem gut ausgebildeten Team Hand in Hand arbeitet.
Denn die Zusammenarbeit im Team ist Aline Hielscher ebenso wichtig, wie die mit den Handwerksbetrieben und der Bauherrschaft. Hielscher, die neben den Aaltos auch Eileen Gray, Joan Mitchell, Thomas Ruff, Anna-Eva Bergman oder Anni und Josef Albers als Inspirationsquellen nennt, schätzt "Ping Pong auf Augenhöhe": "Ich lege vor, dann machen die anderen weiter, wir treffen uns wieder und jemand anderes bringt eine Idee ein, die ich noch nicht hatte. Das bringt das Projekt voran." Auch, "weil meine Mitarbeitenden ja noch einen 'Tacken' jünger sind, als ich", wie Hielscher gleichermaßen augenzwinkernd wie ernst sagt. Denn neben dem Austausch über die Disziplinen hinweg, sei es auch die intergenerationelle Kommunikation, die für das Gelingen eines Projekts von entscheidender Bedeutung sein könne: "Ich liebe den Austausch. Das Entwerfen im stillen Kämmerlein, alleine am Tisch, das ist nicht meins." Neben einem Wohnhaus in Leipzig entsteht so derzeit eine weitere Kindertagesstätte in Oberfranken. Wie die meisten Entwürfe sind auch diese beiden Projekte Ergebnisse von öffentlicher Ausschreibung und Verhandlungsverfahren. "In Frankreich habe ich noch sehr viele Wettbewerbe gemacht“, sagt Aline Hielscher, heute könne sie sich das aufgrund der umfänglichen Forderungen in den Auslobungen aber kaum noch leisten. "Wir sind ein kleines Büro und mit dieser Struktur ist das zu schwierig zu stemmen.“ Die gebauten Ergebnisse sprechen dennoch für sich – und für die Art und Weise, wie hier Architektur gedacht und gemacht wird.
Und so ist es gut, dass diese Position doch noch ihren Weg in die Architektur gefunden hat. Ein Weg, auch das sagt Aline Hielscher, sei ja selten direkt, sei immer verbunden mit einer Suche, die im besten Fall "auch nie abgeschlossen" ist. Es gibt Etappen, es gibt Seiten- und Umwege, Mode und Innenarchitektur verschwinden nicht, sondern gehen auf in der Denkweise, die zu überzeugenden Architekturen, zu Räumen führt, die zu einem "schönen Gebrauch" einladen, wie Bruno Taut seine Idee einer Architektur der "guten Beziehungen" nannte, in der alle Teile zu einem Ganzen und damit der Gesellschaft dienlich werden. Und schließlich, kurz bevor die Eloge auf die Aaltos folgt, ist Aline Hielscher eines wichtig zu betonen: "Wenn sich junge Menschen bei mir bewerben, und ich sehe, dass jemand einen ähnlichen Parcours in seinem Leben genommen hatte, keine angeblich geradlinige Karriere gemacht hat, dann nehme ich das immer sehr wohlwollend zur Kenntnis. Einfach weil es zeigt, dass Zweifeln dazu gehört und kein Problem ist."
Ihr Umbau einer ehemaligen Telefonzentrale zur Kindertagesstätte in Merseburg stand auf der Shortlist des DAM Preis 2025. Aline Hielscher ist Mitglied der Jury zum DAM Preis 2026 und hält den Juryvorsitz. Stylepark ist Medienpartner des DAM Preis 2026.


















