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The Shed, New York, USA

Blickpunkt Architektinnen: Elizabeth Diller

In unserer Serie "Blickpunkt: Architektinnen" stellen wir Ihnen in regelmäßiger Folge das Werk von Architektinnen vor – wie das von Elizabeth Diller, deren Arbeit sich durch ein tiefes Verständnis für den jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext auszeichnet.
von Falk Jaeger | 31.07.2025

In Venedig, auf der Architekturbiennale 2025, war sie unter die Baristi gegangen. An der Installation "Canal Café", die sie mit einigen MitstreiterInnen dort aufgebaut hatte, servierte sie Espresso, aufgebrüht mit Lagunenwasser aus dem Hafenbecken des Arsenale, das in vier Schilfreaktoren stufenweise gereinigt wurde. Die Installation forderte die BesucherInnen auf, sich im Sinn des Generalthemas der Biennale mit den ökologischen Zuständen der Lagunenstadt auseinanderzusetzen. Diller Scofidio + Renfro mit Aaron Betsky und Davide Oldani gewannen damit den Goldenen Löwen für den besten Einzelbeitrag. Das Engagement in Venedig kommt nicht von ungefähr. Elizabeth Diller ist eine der (wenigen) Architektinnen und Architekten in den USA, die sich für ökologische Architektur einsetzen.

Canal Café: Diller Scofidio + Renfro, Natural Systems Utilities, SODAI, Aaron Betsky, Davide Oldani

Diller wurde 1958 im polnischen Łódź geboren. Zwei Jahre später emigrierte ihre Familie nach New York City. Sie studierte an der Cooper Union zunächst Bildende Kunst, Film und Fotografie. Ein Kurs von John Hejduk brachte sie schließlich zur Architekturabteilung, wo sie ihren Lehrer, Mentor und späteren Partner Ricardo Scofidio (1935-2025) kennenlernte. 1981 gründeten sie das gemeinsame Büro Diller and Scofidio, 1989 heirateten die beiden. 1997 trat Charles Renfro (*1964) in das Büro ein und wurde 2004 Partner des nun Diller Scofidio + Renfro (DS+R) firmierenden Teams.

Die Cooper Union, an der Architektur von John Hejduk, Peter Eisenman und Daniel Libeskind nicht als bautechnisches und bauwirtschaftliches Metier sondern als kulturelles, mit Kunst und Philosophie verbundenes Genre betrieben wurde, prägte auch Elizabeth Diller und brachte sie zu kreativen, konzeptionellen, gar rebellischen Ansätzen. "Ich wollte nie bauen. Wir hielten Architektur für intellektuell bankrott und leicht korrupt, und ich interessierte mich immer mehr für andere Formen des Diskurses", beschreibt sie ihre damalige Haltung.

Elizabeth Diller

So beschäftigte sich das Büro lange Jahre mit experimentellen und visionären Entwürfen jenseits der Baupraxis. Als sie sich schließlich dem konkreten Bauen zuwandten, "waren wir ziemlich arrogant. Aber während unserer Arbeit als ArchitektInnen wurden wir sehr demütig. Es ist wirklich schwer, mit Budgets und Terminen und all diesen MitarbeiterInnen umzugehen." Dennoch blieben sie zunächst bei ihren Bestrebungen, Konventionen in Frage zu stellen, die Grenzen architektonischer Wahrnehmung hinauszuschieben, visionär zu denken. Das lässt an neue Aufgaben "naiv" herangehen, zunächst ohne die Bauausführung im Blick zu haben. Sie beschreibt den Prozess als "Sprung von einer Klippe ohne Fallschirm, um dann herauszufinden, wie man etwas für eine sanfte Landung bauen kann."

Dillers Architektur ist nie nur bloße Bauprogrammerfüllung. Immer geht es auch um unkonventionelle Konzeptionen architektonischen Lebensraums, um neue Raumerfahrungen und um gesellschaftliche Verantwortung. Das Bemühen um den öffentlichen Raum im Sinn der Verpflichtung den Nutzern gegenüber durchzieht das ganze Werk von DS+R. "Die Aufgabe der Architektinnen und Architekten ist es, so viel Raum wie möglich für die Öffentlichkeit zu sichern. Wenn es nach mir ginge, würde ich einfach das Erdgeschoss jeden Gebäudes öffentlich zugänglich machen. Das wäre fantastisch für die Demokratisierung des Raums", sagt sie und spricht dabei ganz nebenbei das Kardinalproblem heutiger Stadtplanung an, die vor lauter Verkehrsoptimierung und Geschossflächenmaximierung den Menschen vergessen hat, für den die Stadt Lebens- und Handlungsraum ist.

High Line, New York, USA
Roy and Diana Vagelos Education Center, New York, USA
Zaryadye Park, Moskau, Russland

Eines ihrer bekanntesten Projekte ist die High Line, ein ehemaliger Gütereisenbahnviadukt am Westrand von Manhattan, der in mehreren Abschnitten 2009 and 2019 zu einem 2,7 Kilometer langen, populären Stadtpark auf der Ebene +1 umgewandelt wurde und heute als grüner öffentlicher Raum hochgeschätzt wird. Die High Line wurde zur Bühne für die Interaktionen der Menschen. Zu einem Ort der neuen, veränderten Wahrnehmung und Nutzung der Stadt – ein enormer Gewinn für die Menschen im extrem verdichteten Manhattan. Internationales Aufsehen erregte die Arbeit von DS+R in Moskau. Sie gewannen einen großen, weltweit ausgelobten Wettbewerb um die Gestaltung des Zaryadye-Parks. Er entstand auf einem 14 Hektar großen Gelände unmittelbar neben Kreml und Rotem Platz am Ufer der Moskwa anstelle des abgerissenen Rossiya Hotels und wurde 2017 eröffnet.

Dillers Arbeit zeichnet sich durch ein tiefes Verständnis für den sozialen und kulturellen Kontext aus. Es geht ihr nie nur um die Ästhetik des Objekts, sondern stets um den Dialog, den die Architektur mit den Menschen und ihrer Umgebung führt. So ist eine der Konstanten in Dillers Arbeiten ihr Anliegen, den öffentlichen Raum als Bühne zu inszenieren. Schlagendes Beispiel ist The Shed, ein Kulturzentrum in New York City am Ende der High Line (2009-2019), das durch eine spektakuläre dynamisch-schräge Hülle auffällt, die auf Rädern steht und je nach Wetterlage über eine Außenspielfläche oder über das Gebäude gefahren werden kann. Das Projekt zeigt auch Dillers Interesse an neuen Technologien, ihre Technikbegeisterung, die sie immer wieder zu unkonventionellen Technikanwendungen führt.

Institute of Contemporary Art, Boston, USA
Institute of Contemporary Art, Boston, USA
Institute of Contemporary Art, Boston, USA

Das Formenrepertoire der Architektur von Diller Scofidio + Renfro ist vor allem durch zwei Motive dominiert: Aufgetürmte, gegeneinander verschobene Kuben stapeln sich in die Höhe wie beim Perry and Marty Granoff Center for the Creative Arts der Brown University in Providence, Rhode Island, beim David Rubinstein Forum der Universität Chicago oder beim Institute of Contemporary Art in Boston (2006), das durch eine gigantische und bautechnisch ambitionierte Auskragung des oberen Kubus´ über das Hafenbecken beeindruckt. Durch diese ungewohnte Ästhetik gewinnen die Bauten zuweilen starke Symbolkraft und eine entschiedene ikonische Präsenz. Ein attraktiver Hingucker ist zum Beispiel das Roy and Diana Vagelos Education Center der Columbia Universität in Upper Manhattan. Die Südseite des 14-stöckigen Turms öffnet sich dem Beschauer und zeigt das Innenleben, eine Kaskade übereinandergeschachtelter Hörsäle, Seminarräume, Studierkabinette und Treppenanlagen. Nicht weit davon entfernt und kaum weniger attraktiv die Business School der Columbia, deren gestapelte Glasfassade ebenso das Innere mit all den Sälen und Treppenhäusern nach außen kehrt – zumindest am Abend bei Beleuchtung von innen. Der zweiteilige Bau entbehrt nicht einer gewissen Dramatik, die bisweilen durch Verzerrung der gestapelten Kuben bei nicht realisierten Entwürfen wie beim Museum of Image and Sound für die Copacabana in Rio noch gesteigert wird.

Das zweite wiederkehrende Motiv sind schräg aus der Horizontale gehobene Baukörper. Die Broad Art Foundation in Los Angeles (2015) ist ein in wilde Lamellen gekleideter Kubus, der an zwei Ecken angehoben scheint, um Zugänge ins Innere freizugeben. Das United States Olympic & Paralympic Museum in Colorado Springs (2020) zeigt ein Arrangement aus gleich vier solcher schräg schwebender Kuben. Aus der frühen Prägung durch konzeptionelles Entwerfen kommt auch Dillers Affinität mit künstlerischen Interventionen, Theaterevents, Kunst und Museumsbau. Im Spannungsfeld zwischen Umwelt, Philosophie, Kunstwahrnehmung und Raumempfinden oszillierte The Blure Blur Pavilion zur EXPO 2002 auf dem See Neuchâtel bei Yverdon-les-Bains in der Schweiz. Auf das Streben nach immer hochwertigeren, hochaufgelösten Bildern reagierte Diller konfrontativ mit einer diffusen, konturlos über dem See schwebenden, fußballfeldgroßen Wolke. Wasser als "Baumaterial" entmaterialisierte die Architektur. 35.000 Hochdruckdüsen versprühten einen feinen Nebel aus Seewasser, das aus gesundheitlichen Gründen zuvor durch eine Filteranlage gereinigt werden musste. Dillers Erfahrungen mit dieser Technik sind 2025 in das Projekt Canal Café der Biennale eingeflossen.

United States Olympic & Paralympic Museum

Elizabeth Diller beklagt, dass die Architektur mit einem weißen, männlichen Heldentyp assoziiert sei und stellt fest, das 50 Prozent der ArchitekturstudentInnen weiblich sind, aber nur 20 Prozent im Beruf bleiben. Sie sieht sich als Profiteurin der Frauenbewegung, auch wenn sie nicht selbst "die schwere Arbeit" der Emanzipationsbewegung mit geleistet habe. Ihre eigene Berufspraxis sieht sie mit vielfältigen PartnerInnen als betont inklusiv und integrativ aufgestellt.

Bei ihrer Lehrtätigkeit an der Princeton University, New Jersey, versucht sie, Erfahrungen ihres eigenen Studiums und Werdegangs weiterzugeben, unabhängiges Denken, unkonventionelle Wege gehen: "Ich liebe es, nicht zu unterrichten, was ich weiß, sondern was ich nicht weiß. Ich bringe die Studierenden aus dem Gleichgewicht und verunsichere sie." Damit will sie eine Denkweise fördern, die immer Gewissheiten in Frage stellt und nach Alternativen sucht. Elizabeth Diller hat einen Weg gefunden, diese Neugier und diese Unkonventionalität aus ihren Anfängen zu bewahren und in wirklich große Architektur umzusetzen.