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Marie-José Van Hee

Blickpunkt: Architektinnen – Marie-José Van Hee

In unserer Serie "Blickpunkt: Architektinnen" stellen wir Ihnen in regelmäßiger Folge das Werk von Architektinnen vor – wie das fulminant stille Werk der belgischen Architektin Marie-José Van Hee, dem das Flanders Architecture Institute in Antwerpen aktuell eine Ausstellung widmet.
von Florian Heilmeyer | 04.05.2023

Obwohl sie seit nun fast genau 50 Jahren als Architektin tätig ist und von 400 Projekten etwa 250 gebaut wurden, darunter einige herausragende Wohnhäuser, dürfte die Architektin Marie-José Van Hee selbst in ihrem Heimatland Belgien kaum jemandem ein Begriff sein. Ein Grund dafür ist sicher der kleine Maßstab, in dem sie sich überwiegend bewegt hat; die große Mehrheit ihrer Projekte sind Einfamilienhäuser, dazwischen ein paar kleinere Wohnsiedlungen und erst in den letzten Jahren sind öffentliche Gebäude, Plätze und eine Brücke hinzugekommen. Ein zweiter Grund für Van Hees Unbekanntheit ist wohl ihre konsequente Weigerung, sich in einen Stil einordnen zu lassen. Ihre Häuser sind keine radikal-modernen Betongebilde wie die ihres Landmannes Juliaan Lampens. Die aufkommende Postmoderne hat sie ebenso wenig interessiert wie der Dekonstruktivismus oder der aktuelle Fokus auf die Nachhaltigkeit. Auch liefern ihre Häuser keine spektakulären Fotos, die sich über die Internet-Kanäle oder in den glossy Sammelbändern der "50 Best Homes" verkaufsfördernd verbreiten ließen. Von Anfang an konzentrierte sich Van Hee stattdessen auf eine gut gemachte, komplex durchdachte Architektur der Reduktion und Konzentration, der offenen Räume mit möglichst vielen Wegverbindungen und Nutzungsmöglichkeiten; ihre ist eine Architektur, die sich mit präzisem Materialeinsatz am Licht und den wechselnden Jahreszeiten orientiert. Es ist eine außergewöhnlich stille und darin reizvolle Baukunst – gerade deshalb lohnt sich heute, in unruhigen Zeiten, der Blick auf ihr bedachtes, vielfältiges Werk.

Reconversion House Devos Heusden, Belgium
Van Hee House

"Ich musste um alles kämpfen"

Geboren im Jahr 1950 in Bachte-Maria-Leerne, zwischen Deinze und Gent, schickten ihre Eltern sie mit zehn Jahren auf ein Internat. Es war ihre Kunstlehrerin, eine Nonne, die Van Hees Talent erkannte und sie ermutigte, Architektur zu studieren – gegen den Willen der Eltern und der Schulleiterin, die sagten, Architektur sei nur etwas für Männer. Aber Van Hee wird an der berühmten Sint-Lucas Architekturschule im nahen Gent angenommen, Frauen waren dort gerade erst zum Architekturstudium zugelassen. In ihrem Jahrgang, erinnert sich Van Hee, seien unter 80 Studierenden gerade vier Studentinnen gewesen. "Ich bin wohl tatsächlich eine 1968-erin", sagt sie. "Ich mag Freiheit. Und ich mag keine starren Regeln."

Ihr Studium beendet sie 1975, da ist sie 25. In Flandern herrscht eine Wirtschaftskrise, die Bauindustrie liegt brach und für Frauen ist es somit doppelt schwer, als Architektin zu arbeiten. "Ich musste um alles kämpfen." Van Hee, deren Abschlussarbeit sich mit den Gärten des französischen Königs Ludwig XIV. beschäftigte, beginnt ihr Berufsleben beim Landschaftsarchitekten Paul Deroose und arbeitet erst nebenher, dann immer mehr an eigenen Aufträgen. 1986 gründet sie zusammen mit Johan Van Dessel das Büro VDVH Associés in Brüssel und schließlich 1990 auch offiziell ihr eigenes Büro – obwohl sie da bereits seit 25 Jahren Wohnhäuser entwirft und baut.

Poesie im Dialog

Ihre Architektur wird oft als "Raum-Poesie" beschrieben. Sie selbst sagt, dass sie immer damit beginne, einen Baum zu pflanzen – da ist sie immer noch ganz Landschaftsarchitektin. Auch haben viele ihrer Entwürfe einen Innenhof als gebäude-inneren Landschaftsraum. Wo es keinen solchen Hof gibt, da ist die Verbindung von innen und außen immens wichtig. Ansonsten pflegt sie eine seriöse, fast asketische Baukunst, die das räumliche Gefüge und seine Proportionen ernst nimmt – und gerade dadurch Freiheiten für die Benutzer- und BewohnerInnen schafft. Ein bisschen erinnert es an japanische Räume, außer das Van Hees Gebäude trotz ihrer Strenge selten kühl oder abweisend wirken, sondern im Gegenteil wohnlich und behaglich. Sie laden zum Benutzen ein und zum eigenen Ausgestalten. "Architektur ist keine Kunst", sagt Van Hee. "Kunst hat die Freiheit, unbrauchbar zu sein. Das darf Architektur nicht."

Dazu passt, dass Van Hee keine unnahbare Künstlerin ist, sondern für ihre Architektur den Dialog sucht. Der Beginn jedes Projekts ist das Gespräch, sagt sie, denn alle kämen ja mit ihren individuellen Vorstellungen. "Ich beginne immer mit einer Skizze, um zu schauen, ob wir uns finden." Die größte Herausforderung der letzten Jahre seien die jüngeren Kunden, die ihr Moodboards auf Pinterest zeigen und sagen, dass sie so ein Haus möchten. "Ich sage ihnen, dass ich dann wohl nicht die richtige Architektin für sie bin, da sie offensichtlich etwas anderes wollen." Skizzen spielen in Van Hees Arbeitsweise eine zentrale Rolle. Sie sind ihr Entwurfswerkzeug. Außerdem ist ihre Architektur langsam: Sie nimmt sich Zeit für die Gespräche und sie nimmt sich Zeit, die Bauplätze und deren Umgebung kennen zu lernen. Daraus leitet sie Stimmungen ab, die sie in Skizzen überträgt, die Schritt für Schritt präziser werden, um langsam Räume und schließlich Häuser zu werden. "Meine Architektur soll nicht bestimmen, wie die Menschen zu leben haben, sondern Möglichkeiten schaffen." Wieder geht es um Freiheiten – nicht nur für sie, sondern auch für die, die in ihren Häusern leben. Sie arbeitet langsam, dass weiß sie. Aber ihre geduldige Behutsamkeit überträgt sich auf die Häuser, die sie entwirft: "Die meisten meiner KundInnen sagen, dass sie sich in den Häusern wie in einem Ferienhaus fühlen. Sie kommen dort zur Ruhe. Sie finden eine Entschleunigung in meinen Häusern. Das bedeutet mir sehr viel."

Haus in Zuidzande
Neugestaltung des Genter Stadtzentrums: Architektengemeinschaft Robbrecht und Daem, Marie-José Van Hee

Markthalle der Möglichkeiten

Wohnhäuser zu entwerfen war also zum Teil eine Entscheidung von Van Hee, zum größeren Teil aber schlicht das, was ihr als Architektin möglich war. Ab 1990 beginnt sie eine immer engere Zusammenarbeit mit ihren ehemaligen Studienkollegen Paul Robbrecht (*1950) und Hilde Daem (*1950). Die zwei hatten direkt nach dem Studienabschluss ihr eigenes Büro "Robbrecht en Daem Architecten" eröffnet, das heute zu den bekanntesten belgischen Büros zählt. Zusammen mit ihnen arbeitet Van Hee nun auch an Aufträgen jenseits der privaten Wohnhäuser – eine Kunstgalerie in Elsene (1990-1992), die vollständige Neugestaltung des Leopold-De-Wael-Platzes in Antwerpen (1997-1999) und schließlich ihr wohl bekanntestes Projekt, die Neugestaltung des Emile-Braun-Platzes im Zentrum von Gent (1996-2012). In die Mitte dieses Platzes stellten Robbrecht, Daem und Van Hee ein großes, nach allen Seiten offenes Dach aus Holz, hochgestellt auf vier Sockelfüßen aus Beton. Mit dieser seltsam vertrauten Silhouette eines doppelten Satteldaches schaffen die ArchitektInnen ein neues Gravitationszentrum für den völlig asymmetrischen Platz, der bis dahin vor allem als Parkplatz genutzt worden war; ein neues Zentrum, das für vielfältige Inbesitznahme offensteht. In einem der Betonfüße ist sogar ein funktionierender Kamin eingesetzt. "Ja, wir hatten die Vorstellung, dass das Stadtzentrum eine Art Zuhause ist", so Van Hee. Und das wird angenommen: Unter dem Dach finden Festivals, Konzerte, Hochzeiten statt, manche stellen Tische auf und essen dort. Es ist eine völlig neue Typologie: eine Markthalle der Möglichkeiten. Das Projekt wurde weltweit publiziert und vielfach mit Preisen ausgezeichnet, so wurde es 2013 für den Europäischen Mies van der Rohe-Preis und 2014 für den Europäischen Preis für den öffentlichen Stadtraum nominiert.

Seitdem hat Van Hee auch eigene, größere öffentliche Aufträge bekommen: den Umbau eines alten Industriebaus zum Mode-Museum in Antwerpen (1999-2003), die Umwandlung eines Lagerhauses in Gent zu als Performing Arts Center (2004) oder die laufende, großmaßstäbliche Neugestaltung der städtischen Flussufer in Deinze (seit 2009). Auch ein Traum von Van Hee hat sich erfüllt mit dem Auftrag für die Brielpoortbrücke bei Deinze (2018-2021) – als Bauwerk, das eine unmittelbare, sichtbare Verbindung schafft, ist es ihrem Portfolio, das überall nach Verbindungen sucht, wie eingewachsen. Im Büro der heute 73-jährigen arbeiten derzeit sieben bis acht feste MitarbeiterInnen. Darunter sind immer wieder Frauen, die, wie Van Hee bemerkt, anschließend ganz selbstverständlich ihre eigenen Büros eröffnen. "Und immer wenn ich laut daran denke, mein Büro zu schließen, dann sagen sie: 'Nein, nein, hör nicht auf. Du bist ein Vorbild für uns.' Es scheint, ich habe nicht nur für mich gekämpft, sondern auch für sie." Das freut Van Hee natürlich. Ans Aufhören denkt sie trotzdem nicht. Vermutlich weiß sie gar nicht, wie das geht.

Der Großteil ihrer Arbeit aber sind bis heute die kleinen, privaten Wohnhäuser geblieben, die bis heute fast ausschließlich in Flandern gebaut wurden. Ihre Architektur hat dabei aber inzwischen eine solche Sicherheit und Reife gewonnen, dass auch diese Häuser jetzt internationale Aufmerksamkeit erfahren. Wie zuletzt das Haus mit Arztpraxis in Opwijk (2005), das Haus HdF in Zuidzande (2007) oder das Haus V-D in Gent (2007), die alle in internationalen Publikationen besprochen wurden. Das renommierte japanische Magazin A+U widmete ihr 2021 eine ganze Ausgabe, in der – natürlich – vor allem die Wohnhäuser in ihrer ganzen wunderbaren Stille gezeigt werden. 2019 erschien bei Slow Publishing eine erste, umfangreiche Monografie mit dem passenden Titel "More Home, More Garden". Und das Flämische Architekturinstitut in Antwerpen hat sie zum zweiten Mal nach fast 30 Jahren zu einer Solo-Ausstellung eingeladen. In dieser Ausstellung namens "Een Wandeling. A Walk" zeigt Van Hee weniger ihre eigenen Projekte, als dass sie in lässiger Selbstverständlichkeit die Grundzüge ihrer Architektur demonstriert. So ließ sie die Ausstellungsräume im verwickelten, mehrfach umgebauten VAI weitgehend öffnen, so dass die BesucherInnen einen weiten Spaziergang unternehmen können – so, wie sie in ihren Entwürfen auch fast immer mehrere Routen durch die Wohnhäuser zulässt. Zudem ließ sie auf dem asphaltierten Vorplatz ein Loch aufbrechen, um dort einen Baum zu pflanzen, wie sie es bei den meisten ihrer Projekte macht. Ihre eigenen Projekte legt Van Hee in der Ausstellung lediglich als voluminöse Bücher aus, die auf eigens entworfenen Lesepulten studiert werden können – in eben jener großen Ruhe und Konzentration, die die Essenz ihrer großartigen Architektur sind.

Marie-José Van Hee architecten. A Walk
Bis 21. Mai 2023

Flanders Architecture Institute at DE SINGEL
Desguinlei 25, 2018 Antwerp

Öffnungszeiten:

Mittwoch bis Sonntag, 14 Uhr bis 19 Uhr
während Abendveranstaltungen bis 22 Uhr

Interview - Expo Marie-José Van Hee architecten. A walk in DE SINGEL in Antwerp.