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Myra Warhaftig

Blickpunkt: Architektinnen – Myra Warhaftig

In unserer Serie "Blickpunkt: Architektinnen" stellen wir Ihnen in regelmäßiger Folge das Werk von Architektinnen vor – wie das der Architektin Myra Warhaftig, die neue Formen des Zusammenlebens entwickelt und emanzipatorische Grundriss geschaffen hat, um so auf neue Familienmodelle zu reagieren.
von Florian Heilmeyer | 25.11.2022

Viel gebaut hat die Architektin Myra Warhaftig nicht. Genauer gesagt ist nur ein einziges Haus in Berlin nach ihren Entwürfen errichtet worden: ein Wohngebäude von unauffälliger Gestalt in einer Nebenstraße am Potsdamer Platz, Baujahr 1993, das mit 24 öffentlich geförderten Wohnungen auch nicht besonders groß ist. Doch lohnt sich hier der genaue Blick: Denn Warhaftig war eine wegweisende Forscherin, die jahrzehntelang neue Formen des Zusammenlebens entwickelte und die dringende Notwendigkeit erkannt hatte, mit radikal veränderten Grundrissen auf die neuen Familienmodelle ihrer Zeit zu reagieren. Schon mit ihrer theoretischen Doktorarbeit an der TU Berlin mit dem wundervoll komplizierten Titel "Die Behinderung der Emanzipation der Frau durch die Wohnung und die Möglichkeit zur Überwindung" hatte sie in diese Richtung gearbeitet und danach für die Internationale Bau-Ausstellung 1984 in West-Berlin mehrere Studien zum "Familiengerechten Wohnen" erstellt. Das Wohnhaus in der Dessauer Straße, einer ruhigen Nebenstraße direkt neben dem Potsdamer Platz, ist ein Manifest dieser Beschäftigung und zeigt, dass Grundrisse direkten Einfluss haben auf die Art, wie mit und in ihnen gewohnt werden kann.

Wohnhaus an der Dessauer Straße 38-40 in Berlin-Kreuzberg, Ansicht vom Innenhof, um 1993

Doch der Reihe nach: Myra Warhaftig kommt 1930 in Haifa zur Welt, ihre Eltern waren schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg aus Polen nach Palästina emigriert, wo sie eine Druckerei betrieben. Vom gerade aus Deutschland emigrierten Architekten Max Loeb ließen sie sich erst eine Druckerei, dann auch ihr Wohnhaus bauen, sodass Myra in einer Architektur der klassischen Moderne aufwächst. Ab 1950 studiert sie als eine der ersten Frauen Architektur am Technion – Israel Institute of Technology in Haifa. Gleich nach ihrem Abschluss geht sie 1955, gegen den Willen der Eltern, nach Paris. Dort arbeitet sie kurz bei Auguste Perret, dann bei Candilis Josic Woods. Die drei ehemaligen Le Corbusier-Mitarbeiter hatten gerade erst ihr eigenes Büro gegründet und sollten mit ihren strukturalistischen Entwürfen bald Furore machen. Warhaftig ist fast von Anfang an im Büro und an allen Wettbewerbsbeiträgen, Studien und Wohnungsbauprojekten beteiligt. Später sagt sie über die Stimmung: "Mittags gingen wir gemeinsam essen, man war nie allein. Candilis, Josic und Woods wohnten in der Nähe. Dort wurden oft Feste gefeiert; das ganze Büro war eingeladen. ... Wir machten auch gemeinsame Ausflüge... Dafür haben wir dann auch alles für das Büro gegeben. Ich erinnere mich an einen Wettbewerb, an dem wir Tag und Nacht in Schichten gearbeitet haben. Und als ich nach einer solchen Nachtschicht einmal morgens aus dem Büro kam, schlugen die Händler gerade ihre Marktstände auf. Ich war erschöpft, aber überglücklich."

Stahlkubensystem im Architekturmodell, M 1:10
Stahlkubensystem im Architekturmodell, M 1:10

1963 gewinnt das Büro sensationell den internationalen Wettbewerb für den Neubau der Freien Universität in Berlin. Eine Dependance in Berlin wird eröffnet, deren Leitung der deutsche Architekt Manfred Schiedhelm übernimmt. Mit einigen überwiegend deutschen MitarbeiterInnen geht auch Warhaftig mit nach West-Berlin, nur zwei Jahre nach dem Mauerbau. Sechs Jahre arbeitet sie intensiv am Bau der Universität mit. Der Entwurf sieht ein komplexes System aus modularen Flachbauten vor, deren Elemente so einfach miteinander auszutauschen sein sollten, dass das Gebäude quasi jederzeit umgebaut werden könnte – eine Uni, die morgens anders aussehen könnte als abends. So attraktiv diese Idee war, so schwierig war die Umsetzung: Obwohl die Fassade mit Hilfe von Jean Prouvé, dem Papst der französischen Ingenieure, entwickelt wurde, gaben die unendlichen bauphysikalischen Probleme vor allem in der Fassade aus Corten-Stahl-Modulen dem Bau bald den unrühmlichen Spitznamen "Rostlaube". Die KritikerInnen waren sich zwar einig, dass dies das wichtigste Gebäude des Strukturalismus in ganz Europa sei, trotzdem waren die Fassaden einfach nicht dicht zu bekommen. Wasser und Zugluft drangen ein, im Winter war es zu kalt, im Sommer zu heiß – und immer zu nass. Auch die radikale Flexibilität der Module konnte nie umgesetzt werden. Erst mit der Sanierung 2007 konnten zumindest die drängendsten Fassadenprobleme dauerhaft behoben werden.

Gebäude der Druckerei Noah Warhaftig in Haifa des Kasseler Architekten Max Loeb, 1937

Myra Warhaftig aber war von den Ideen einer modularen Flexibilität so begeistert, dass sie ein eigenes System aus quadratischen Wohnkuben entwickelte, die in theoretisch endlosen Reihen neben- oder übereinander aneinandergeschraubt werden konnten. Warhaftig faszinierte die individuelle Gestaltungsfreiheit, die dieses System seinen BewohnerInnen versprach: "Der Stahl-Kubus ist ein System von höchster Variabilität, das allen Ansprüchen gerecht wird", schreibt sie in ihrem Buch "2,26 mal 2,26 mal 2,26. Spiel mit Wohnkuben" von 1969. "Er ist einfach zu montieren und von geringem Gewicht, so dass jeder seine Räume selbst bestimmen und verändern kann. … Es kommt hier nicht so darauf an, ob es gut oder schlecht realisiert ist oder unseren Vorstellungen als Architekten entspricht, sondern vielmehr, dass sich jeder an seiner unmittelbaren Umwelt aktiv beteiligt und sie nach seinem Geschmack gestaltet."

Zu diesem Zeitpunkt hat Warhaftig bereits zwei Töchter und lebt als eine von vielen alleinerziehenden Müttern in West-Berlin. Arbeit und Familie bekommt sie kaum unter einen Hut und so arbeitet sie mehr als Assistentin an den Universitäten, denn als Architektin. So findet sie auch das Thema ihrer Dissertation, die sie 1978 an der TU Berlin bei Julius Posener abschließt: Wie müsste ein Wohngrundriss aussehen, der auch andere, emanzipatorischere Familienmodelle zulässt? Dazu entwickelt Warhaftig prinzipielle Grundrisse, in denen die Küche nicht mehr als abgeschlossener, minimal-effizienter Arbeitsraum vom Rest der Wohnung abgeschlossen bleibt, sondern im Gegenteil als offener, zentraler Raum das Herz der Wohnung bildet. Sie greift dabei unter anderem auch auf das Konzept der "flurlosen Wohnung" von Alexander Klein zurück, einer ihrer Professoren am Technion in Haifa. Und sie wendet sich energisch gegen die Ideen der extrem durchrationalisierten "Frankfurter Küche", wie sie 1926 unter anderem von der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky entwickelt worden war – und die heute noch als Mutter aller Einbauküchen gilt.

Architekturmodell der emanzipatorischen Wohnung mit Wohn-Raum-Küche, M 1:25, 15 x 73,3 x 54,8 cm

Die Internationale Bau-Ausstellung eröffnet Warhaftig dann plötzlich die Möglichkeit, ihr Konzept in einem Neubau pilothaft umzusetzen. Tatsächlich ist der Direktor des IBA-Neubauprogramms, der Berliner Architekt Josef Paul Kleihues, Anfang der 1980er-Jahre stark unter Druck, weil so wenig Frauen an der IBA beteiligt sind. Und Warhaftig hatte ihre Dissertation 1982 gerade rechtzeitig publiziert, um in den KandidatInnenkreis zu geraten. 1986 vergibt die IBA schließlich drei Entwürfe für drei nebeneinander liegende Parzellen an der Dessauer Straße an drei Frauen: Christine Jachmann, Zaha Hadid und Myra Warhaftig. In seiner Bauzeit findet Warhaftigs Gebäude zu Unrecht wenig Beachtung. Es entsteht allerdings erstens im Schatten von Hadids erstem realisiertem Haus weltweit, das mit Bronzefassade und spitz geneigter Ecke die Blicke auf sich zieht. Zweitens wird es im Schatten der deutschen Wiedervereinigung errichtet. Denn bis Warhaftigs Wohnhaus 1993 bezogen wird, ist aus der geteilten Doppel- die deutsche Hauptstadt geworden. Und obwohl die Dessauer Straße nun nicht mehr im Mauerschatten, sondern im Epizentrum der Stadt liegt, wurden doch längst andere Themen für die hitzigen Debatten um die Gestaltung des neuen Berlins gefunden. Wer hatte da noch Augen und Ohren für Warhaftigs kleinen, leisen Wohnungsbau mit seinen innovativ-evolutionären Grundrissen?

Vielleicht ist erst heute die Zeit für eine genauere Betrachtung gekommen: Das viergeschossige Gebäude trägt zur Straße eine Backstein- zum begrünten Innenhof eine schlichte Putzfassade. Zwei Eingänge und die tiefen Loggien in der Gebäudemitte geben der Hülle eine konventionelle Struktur. Allein die freie Verteilung der unterschiedlichen Fensterformate gibt einen Hinweis auf die Kraft der dahinterliegenden Grundrisse. Warhaftig gliederte alle 24 Wohnungen in drei Zonen: Zur Straße ausgerichtet sind Wohn- und Arbeitszimmer, zum Gartenhof die Schlafzimmer. Dazwischen liegt statt eines Flures eine zentrale, verbindende Zone, deren Zentrum in allen Wohnungsgrößen immer die "Wohn-Raum-Küche" bildet. Dieser von Warhaftig erfundene Begriff definiert einen Allraum, der unmittelbar hinter der Eingangstür beginnt und mit allen anderen Zimmern in verschiedenen Konstellationen kombiniert werden kann. Der Dunkelheit in dieser Mittelzone begegnete Warhaftig geschickt mit den von beiden Seiten eingeschnittenen Loggien, die das Tageslicht tief in die Wohnungen lassen.

Mögliche Sichtachsen und Ganglinien in einer herkömmlichen „familiengerechten“ Dreizimmerwohnung des sozialen Wohnungsbau aus der Perspektive einer Mutter, gezeichnet von Myra Warhaftig, 1978
Grundrisszeichnung der emanzipatorischen Wohnung mit Wohn-Raum-Küche und Individualräumen ohne Nutzungszuweisung von Myra Warhaftig, 1986

In endlosen Diagrammen zeigt Warhaftig, wie anders in diesen Wohnungen gelebt werden kann. Die oder der Alleinerziehende kann zum Beispiel Essen zubereiten, am Schreibtisch arbeiten oder fernsehen und hat dennoch durch irgendeine Raumverbindung immer auch die Kinder im Blick, die sich selbständig in der Wohnung ihre eigenen Spielbereiche suchen können. Auch sind die Zimmer relativ gleichwertig, sodass die BewohnerInnen selbst entscheiden können, wo geschlafen, wo gegessen und wo gearbeitet wird. Es ist ein emanzipatorisches Wohnkonzept im engsten Wortsinne: Ein befreiendes Konzept, völlig unabhängig vom Geschlecht, denn wer hier die Küchenarbeit verrichtet oder wer tagsüber mit den Kindern zusammen in der Wohnung ist, bleibt offen. Fast nebenbei rückt Warhaftig die Essenszubereitung und die Kinderbetreuung ins Zentrum der Wohnung. Aber auch kinderlose Wohngemeinschaften von Gleichaltrigen oder mehr als zwei Generationen sind in diesen Grundrissen leicht vorstellbar. Es ist der vielleicht erste, umfassend emanzipatorische Grundriss in der Architekturgeschichte – und sicher einer der durchdachtesten.

Ein weiteres Haus baute Warhaftig nicht mehr. Sie zieht mit ihren beiden Töchtern in eine der Wohnungen in der Dessauer Straße und lebte dort bis zu ihrem plötzlichen Tod 2008. Ihr Arbeitsleben hatte sie bis dahin wieder den Forschungen gewidmet, vor allem zum Leben und Werk von deutsch-jüdischen ArchitektInnen. Aus diesen Recherchen konzipierte sie nicht nur ausgesprochen lebhafte Stadtführungen, sondern auch zwei Bücher, die sie 1996 und 2005 veröffentlicht hat und die heute als Standardwerke gelten. Ein Bedauern darüber, dass sie in ihrem Leben nicht mehr gebaut hat als dieses eine Wohnhaus in der Dessauer Straße, hat sie nie geäußert. Vielleicht war es für sie mit einem klaren Statement getan – nun müssen andere den Ball aufnehmen. So hat der Theoretiker Jörg Gleiter in einem Interview jüngst darauf hingewiesen, dass Warhaftigs Grundrisse auch für das gerade so beliebte Homeoffice in Zeiten der Pandemie eine ziemlich ideale Lösung bieten und allein deswegen schon wert seien, genauer studiert zu werden. Vielleicht wird Warhaftig also bald ihren Platz in der Architekturgeschichte bekommen.

Die Architektin und Bauforscherin Myra Warhaftig, um 1991