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Die Perfektion des Unperfekten

Seit 2019 ist der kreative Tausendsassa Luca Nichetto, der in Stockholm und Venedig sein eigenes Designbüro unterhält, Art Director der französischen Lifestyle-Marke "La Manufacture". Neben Interieur bietet diese auch Mode, auf die Nichetto einen speziellen Blick hat. Wie sieht er die Gegenwart und Zukunft der Designbranche?
von Silke Bücker | 09.07.2021

Schon länger hatte Robert Acouri, CEO der Groupe Cider und Gründer von 'La Manufacture', die Vision, Mode und Design unter dem Dach einer Brand zu vereinen. Nichetto, der es liebt, bislang unerforschtes Terrain zu betreten, war sofort Feuer und Flamme. Sein Zugang zur Mode unterscheidet sich in keinster Weise von dem zum Design, er betrachtet jedes Stück, das er kreiert, klar als Objekt. Demokratisch, zeitlos, unabhängig von saisonalen Wechseln und überdies genderneutral. Im Fokus stehen die Koordinaten Qualität, Handwerk und High-End-Ästhetik. Denn was echte Qualität bedeutet, weiß Nichetto nur zu gut, arbeitete er doch in der Vergangenheit eng mit Hermès zusammen. "Hermès ist eine Liga für sich", sagt er – "sicher eine der letzten verbleibenden Luxusmarken auf dem Lifestylesektor". Und fügt an, dass man es dort überhaupt nicht gerne sieht, als reine Modemarke tituliert zu werden. Eine Haltung, die Nichetto auch auf seine persönliche Philosophie überträgt.

"Bevor das Wort Designer in Mode kam", erzählt er, "hießen Menschen wie wir in Italien einfach 'Produktmacher'. Dieser Begriff umschreibt recht gut, wie ich die Sache sehe. Egal ob ich ein Sofa oder einen Mantel entwerfe, mein Traum ist es vor allem, dass die Dinge, die ich erschaffe, ein Leben lang halten. Als ich mich näher mit der Modeindustrie befasste, dachte ich zunächst: Wie arrogant es ist, den Konsumenten vorzuschreiben, zu welcher Zeit im Jahr sie was wie zu tragen haben. Wir leben inmitten einer globalisierten Welt – wer braucht da noch ein Diktat – denn jede Realität, jeder Bedarf gestaltet sich völlig individuell. Ebenso wenig wie Saisons, interessieren mich Geschlechter, ich adressiere Menschen."

So dachte er in Bezug auf die Silhouetten seiner Kollektion von Beginn an 'oversize'. Nicht um spezifisch diesem Trend zu folgen, vielmehr mit dem Anspruch dahinter, alle möglichen Körpertypen zu berücksichtigen. "Auf diese Weise haben unsere Kunden die Wahl und sind nicht von vorneherein festgelegt auf Geschlecht oder Größen." Konsequent baut die Kollektion außerdem auf dem Prinzip des Einzelstücks auf. Die Menschen wählen aus einem Potpourri an Optionen, Marken, Stilen und Preislagen, um ihren persönlichen Look zusammenzustellen. "So mache ich es doch auch, wenn ich mein Wohnzimmer einrichte" – auch hier wieder die Herleitung aus seiner Mutterdisziplin. Um die Kollektion saisonübergreifend relevant zu gestalten, setzt Nichetto auf kompromisslos hochwertige Qualitäten, die überwiegend aus seiner Heimat Italien stammen. "Als Designer muss man sich heutzutage bewusst machen, dass wir mit jeder Aktion, die wir initiieren, auf irgendeine Weise zur Verschmutzung dieser Welt beitragen. Deshalb ist die konsequent richtige Wahl aller die Wertschöpfungskette betreffenden Aspekte überaus entscheidend. Denn alles hinterlässt einen Fußabdruck. Mir ist es wichtig, Dinge zu kreieren, die man lange nutzen kann. Dahingehend müssen wir als Kreative auch die Kunden erziehen. Gleichzeitig möchte ich zur Erhaltung von traditionellen Handwerksbetrieben beitragen, damit diese als kulturelle Institutionen unserer Gesellschaft überleben können. Wenn ein T-Shirt von La Manufacture 300 Euro kostet, dann liegt das nicht nur am 'künstlichen' Preisaufschlag, sondern es ist letztlich der tatsächliche Wert. Wir alle sollten umdenken, damit die Welt, wie wir sie schätzen gelernt haben, weiter existieren kann."

Aber nicht nur ein klares Invest ins Produkt und eine emanzipatorische Attitüde den Kunden gegenüber reichen seiner Auffassung nach aus, Konsumwelten nachhaltig zu verändern. Letztlich bedürfe es einer kompletten Neumodellierung von Infrastrukturen, denn diese bauen darauf auf, mehr und mehr konsumieren zu wollen. "Das ist ein Erziehungsauftrag, der schon mit dem Studium beginnen sollte. Außerdem könnten beispielsweise Regierungen DesignerInnen engagieren, die mit der Kraft ihres kreativen Potentials darüber nachdenken, wie man Strukturen verändert, um ein neues, reflektiertes Kaufverhalten zu etablieren. Das könnte beispielsweise so aussehen, dass nicht länger die Nachfrage bestimmt, was entwickelt wird, sondern dass wir als DesignerInnen die Nachfrage des Marktes diktieren. Das wiederum funktioniert nur, wenn Kreative unabhängig bleiben. Echte Kreativität entsteht immer in Freiheit und Unabhängigkeit – letztlich also in der Nische. In dem Moment, in dem ein großer Konzern an dich herantritt, um dich zu beauftragen, läufst du Gefahr, dich ein für alle Mal zu verkaufen und damit deine Innovationskraft an den Nagel zu hängen."

Und so überzeugt Nichettos Modekollektion nicht nur über einen distinguierten Look, geprägt von charakteristischen grafischen Drucken, signifikanten Farben, kompromissloser Qualität und multiplen Trageoptionen, sondern repräsentiert Haltung mittels eines starken Symbolcharakters. Auf den Kleidungsstücken angebracht sind verschieden gestaltete Patches, die wie Aufnäher aus der Sport- oder Musikwelt ein Gefühl von Zugehörigkeit illustrieren. Sie zeigen einen Pandabären und einen Superhelden. Der Panda, eine aussterbende Spezies, steht für die Kraft der Natur, für althergebrachte Handwerks-Skills, die es zu bewahren gilt. Die Rolle des Beschützers übernimmt der selbstlose Superheld mit einer Zange und einem Maßband "bewaffnet", als Insignien für das Wesen der Manufaktur. Seine Mission zahlt auf La Manufacture‘s Wertekanon und Zielsetzung ein: Die Kreation einer interdisziplinären Kollektion, die herausragendes italienisches Handwerk mit französischer Allüre in Einklang bringt. Zwei Qualitätsmerkmale und Sichtweisen, die unabhängig voneinander existieren und sich doch gegenseitig in bester Weise beeinflussen.

Auch wenn Luca Nichetto durchaus Zweifel daran hegt, dass sein Anspruch und seine Sicht auf moderne Produkt- und Konsumwelten auf breiter Ebene Anklang finden, ist sein Engagement ungebrochen. "Ich kann nur für mich und meine Welt denken und handeln, versuchen es besser und mindestens so gut wie möglich zu machen. Und zu hoffen, dass ich andere damit ermutige. Dann habe ich mein persönliches Ziel erreicht. Das Schöne am Menschsein ist schließlich das Privileg, auch mal Fehler machen zu dürfen", sagt er.

Tipp: Unter dem Titel "Opinionated" präsentiert das Nichetto Studio in Zusammenarbeit mit Studio Blanco und Paolo Ferrarini seit kurzem einen Podcast. Die Themenvielfalt reicht dabei von Wirtschaft über Nachhaltigkeit bis hin zu zeitgenössischer Kunst und Musik.

Opinionated Podcast - Episode #1: Luca Nichetto mit Daan Roosegaarde
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