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Radikale Reflexionen

Giò Forma hat in der arabischen Ruinenstadt Al-`Ula mit der Maraya Concert Hall eine paradoxe Illusion erschaffen: Der verspiegelte Kubus des Mailänder Studios wird in der Wüstenkulisse zu einer Bühne für Sand, Felsen und vorbeiziehende Wolken.
von Jeanette Kunsmann | 03.06.2020

Die Wüste als Kontext fasziniert viele Architekten und Künstler, der Spiegel als Medium ebenso. Florian Boje, Gründungspartner von Giò Forma Architects Designers & Artists, erklärt das Konzept für die Konzerthalle Maraya als "Versuch, eine Nicht-Architektur zu bauen": Es sollte kein eigenes Statement, sondern in erste Linie Harmonie zwischen Gebäude und Landschaft entstehen. Auch wenn die Wüste in Saudi-Arabien dazu einlade, eine Skulptur zu entwerfen, müsse man als Architekt diesem Drang widerstehen, um den Charakter der Landschaft zu erhalten, meint Boje. Baukunst wird zur Negation der Negation: eine doppelte Verneinung.

Das Projekt der Maraya Concert Hall beginnt mit einem temporären Vorläufer. 2018 hatte Giò Forma im Auftrag der Royal Commission of Al-Ula (RCU) zunächst eine Festivalinstallation in Al-`Ulas Ausgrabungsstätte Mada'in Salih gebaut, die so großen Eindruck hinterließ, dass die königliche Kommission ein Jahr später einen permanenten Veranstaltungsort errichten wollte. Mit der Idee einer kompletten Spiegelhülle entschied das Team von Giò Forma auch die zweite Ausschreibung für sich, und lieferte den Namen gleich mit. "Maraya" ist arabisch und bedeutet Reflexion, Spiegel. Eine verspiegelte Oase für Kultur, Konzerte, Konferenzen, mit Restaurant und Bar. Der Solitär mit einer Kantenlänge von 100 Metern stört den imposanten Eindruck der Felsformationen nicht, sondern verzaubert die traumhafte Landschaft mit ihren Farbspielen von tiefburgunderrot bis fast weißlich beige – je nachdem, wie die Sonne am Himmel steht. Die Fassade löst die Kubatur auf und erweckt eine optische Täuschung, die wie eine Fata Morgana am Horizont flirrt.

Mit seiner vorislamischen Geschichte stellt Al`Ula einen Ort mit besonderer Bedeutung dar. Mada'in Salih zählt als Nekropole der Nabatäer, die vor 2.000 Jahren um die 100 Monumentalgräber in die bizarren Felsformationen aus gepresstem Sandstein gehauen haben, zum Weltkulturerbe der Unesco. Die junge Tourismusregion gleicht in ihrer Größe einem Land wie Belgien – eine "Stadt im Werden" betont Florian Boje, der auch den Bau des Flughafens in Al`Ula betreut hat. Viel Zeit blieb nicht. Die Reisesaison geht von Dezember bis März und so wurde keine 70 Tage nach Entwurfspräsentation die Konzerthalle eröffnet. Konstruktiv besteht der Kubus aus einem Stahlgerüst, das von innen und außen verkleidet ist. Für die vorgehängten, hinterlüfteten Fassaden suchten die Architekten große Spiegelverkleidungen, die sowohl Hitze als auch Kälte und Sandstürmen standhalten können. Gemeinsam mit Guardian Glass entwickelten sie dafür ein neues Spiegel-Paneel. Alle 3.000 Elemente wurden vortemperiert, damit sie in kleine Stücke brechen. Feine Kanten offenbaren die Konturen des 26 Meter hohen Kubus. Gioforma bedachten auch Sichtachsen und Perspektiven, denn der Spiegel reflektiere zwar aus der Nähe spannend, aus der Entfernung aber weniger. Da die Fassadenelemente nicht zu 100 Prozent flach sind, ergibt die Reflexion keine simple Replik, sondern schafft eine eigene Dimension.

Innen wird der Neubau zur Höhle: Organisiert über drei Etagen, sind die Räume weitestgehend von der Außenwelt abgeschirmt. Allein der Bühnenapparat kann sich mit seiner Umwelt verbinden. Weil sich die Hinterwand über eine Länge von 50 Metern als Schiebetor öffnen lässt, verortet die Wüste als natürliche Kulisse die Konzerthalle im Raum. Während der Vorstellung kann der Sand bis in den Publikumsraum reichen, in dem 550 Zuschauer Platz finden. Dazu passt die parametrische Gestaltung der Holzelemente oberhalb der Tribüne, mit denen die Designer die geologischen Sandschichten imitieren. "Für uns ist alles Bühne, auch ein Gebäude", sagt Florian Boje.