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"Log-Chair"

JUNGE TALENTE
Abweichungen erwünscht

Ein Besuch in Berlin-Lichtenberg bei dem jungen Designer Matthias Gschwendtner, der sich souverän in digitalen wie analogen Welten bewegt – und gerne einen Teil der Gestaltungsarbeit dem Zufall überlässt.
von Jasmin Jouhar | 25.07.2023

Von der Vulkanstraße links abbiegen, an der Baustelle einer Industriehalle und an einem pakistanischen Restaurant vorbei, und da stehen sie, die beiden rohen Betontürme. Einer ist noch ungenutzt, den anderen hat Architekt Arno Brandlhuber mit seinem Büro bplus zum Arbeitsort umgewandelt. Hier, mitten im Lichtenberger Gewerbegebiet, hat eine Gemeinschaft von MacherInnen ihren Platz gefunden. Einer von ihnen: der junge Designer Matthias Gschwendtner. Der Turm ist genau der richtige Ort für ihn, er arbeitet gerne mit anderen zusammen, im Netzwerk, entwickelt Projekte mit unterschiedlichen PartnerInnen. Im Erdgeschoss des ehemaligen Silos, unter den massiven Betonträgern, ist genug Raum dafür. Robuste Arbeitstische auf Rollen, lose auf der Fläche verteilt, Lagerregale, Maschinen, Werkzeuge, Kisten, Kabel – es darf geschafft werden. "Ich bin seit einem Jahr hier, sagt Gschwendtner mit unüberhörbarer bayrischer Färbung. "Hier kann man gut arbeiten."

Analog, digital und zurück

Vor einem der großen Fenster stehen zwei Prototypen des bislang bekanntesten Projekts von Matthias Gschwendtner, dem Stuhl "New Sources". Einer der beiden Stühle ist aus Ästen zusammengezimmert, Sitzfläche und Lehne bestehen rohen Holzbrettern. Der andere Prototyp kommt dem fertigen Stuhl schon näher, das Gestell ist aus Birkenästen, Sitz und Lehne sind als Vertiefungen herausgeschnitten. Mit "New Sources" hat Gschwendtner vor zwei Jahren sein Masterstudium an der Berliner Universität der Künste abgeschlossen. Den Bachelor hatte er an der Technischen Hochschule in Regensburg gemacht. Wobei Stuhl als Bezeichnung es eigentlich nicht trifft, denn der Designer hat eher einen Prozess entwickelt, wie er hölzerne Überreste, etwa Baumschnitt, weiterverwenden kann. Am Anfang des Prozesses steht ein digitales Modell des zu produzierenden Objekts. Dann scannt Gschwendtner die Äste mit einem professionellen 3d-Scanner. Ein von ihm geschriebener Algorithmus wiederum passt die Äste an der richtigen Stelle des 3D-Modells ein und berechnet, was abgefräst werden muss.

"Log-Chair"
"Log-Chair"

Unregelmäßig präzise

Bei "New Sources" geht es darum, so Mattias Gschwendtner, "mit unregelmäßigem Material präzise ein Objekt zu planen". Das Projekt wurde im vergangenen Jahr beim Festival Designblok in Prag ausgezeichnet, es war zudem in der Ausstellung der Initiative German Design Graduates in Dresden zu sehen, das dortige Kunstgewerbemuseum hat einen der Stühle erworben. Ebenso zeigte die Design Plattform "Ukurant" kürzlich im Rahmen der 3daysofdesign in Kopenhagen seine Arbeit. Entstanden ist das Projekt in der Corona-Zeit: Mitten im Abschlussjahr stand Matthias Gschwendtner an der Universität vor verschlossenen Werkstatttüren. Also zog er kurzerhand für ein halbes Jahr zurück zu seinen Eltern in die Oberpfalz und stellte sich einen gebrauchten Industrieroboter in die Garage. Holzabfälle gab es ohnehin im Überfluss. "Für den Master gutes Material, man kann viel experimentieren, hat aber keine Ausgaben", sagt der Designer. Nur den Roboterarm bekam er nicht so schnell an den Start wie erwartet. "Da war ich etwas naiv. Ich bin vier Monate damit beschäftigt gewesen, das Ding zum Laufen zu bringen." Demnächst baut er ihn im Studios eines Freundes in Pankow wieder auf. Dann will er mit demselben Prozess alte Möbelteile wie gedrechselte Beine zu neuen Objekten verarbeiten – digital berechnet, zurechtgefräst vom Roboterarm.

Mundgeblasene Karaffe von Matthias Gschwendtner und Shantala Chandel

Faktor Zufall

Auch mit uralten Handwerkstechniken kommt Matthias Gschwendtner gut zurecht: Das junge Berliner Glaslabel "Analog Glas" bringt demnächst in Kleinserie eine mundgeblasene Karaffe auf den Markt, für die er gemeinsam mit seiner Partnerin Shantala Chandel ein Werkzeug gebaut hat. Die noch heiße Glasblase wird mit einer Art Zange zusammengekniffen und so in Form gebracht. Die Geste des Kneifens fällt jedes Mal ein bisschen anders aus, der Faktor Zufall gestaltet mit. "Ich finde es spannend, so zu arbeiten, Prozesse für kleine Serien zu entwickeln, bei denen durch Material oder Technik kleine Unregelmäßigkeiten entstehen. Man erhält nie wirklich eins zu eins dasselbe Teil." Ein anderes aktuelles Projekt entwickelt er gemeinsam mit dem Designer Anton Defant, der auch im Lichtenberger Turm arbeitet. Es geht um Industriedesign für den Sanitärbereich – mehr darf im Moment nicht verraten werden. Ein Teil eines Modells nimmt während unseres Gesprächs gerade im 3D-Drucker Gestalt an.

Kugelleuchte

Das darf mutieren

Mit dem Berliner Keramikkünstler Jojo Corväiá wiederum entwirft Matthias Gschwendtner organisch geformte Konsoltische aus Keramik – Einzelstücke, die noch in diesem Jahr in einer Designgalerie ausgestellt werden sollen. Daneben arbeitet er mehrmals die Woche im Studio der Berliner Künstlerin Alicja Kwade – um seinen Lebensunterhalt und all die freien Projekte zu finanzieren. Aber auch sein Design gewährt ihm bereits Einnahmen, etwa die Kugelleuchte, die er auf einem Papierkorb in der Werkstatt geparkt hat. Mit ihren Glühbirnen-Stacheln erinnert sie an ein Coronavirus, und tatsächlich mutiert sie mit jeder Ausführung ein bisschen. Gschwendtner verwendet dafür Edelstahlkugeln, in die er Löcher für die Fassungen schneidet. Bei jedem Exemplar sind die Fassungen unterschiedlich platziert. Die Leuchte ist ein Instagram-Erfolg, regelmäßig melden sich Menschen bei ihm, die eine kaufen möchten. Demnächst wird er wieder eine Serie von zehn Stück produzieren, die glänzenden Kugeln liegen schon in einem Lagerraum weiter oben im Turm bereit.