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Feldherrnhalle

Der München-Komplex

Seit etwas über zehn Jahren teilen sich der englische Architekt Stephen Bates und der Schweizer Architekt Bruno Krucker einen Lehrstuhl in München. Gemeinsam mit den Studierenden haben sie in dieser Zeit die Stadt in einer bemerkenswerten Weise erforscht und durchwandert. Nun liegen ihre Erkenntnisse vor.
von Florian Heilmeyer | 28.06.2023

Als erstes bemerkt man die ruhige, innere Schönheit dieses Buchs. Denn auf den ersten Blick kommt "From the Room to the City. Munich. Urbanity and Complexity" nicht besonders auffällig daher, eher im Gegenteil. Das Buch scheint mit seinem kräftigen grauen Leineneinband und der schwarz eingeprägten Serifenschrift ganz auf Understatement zu setzen. Doch liegt es gut und leicht in der Hand, etwas kleiner als A4 und im Format zwar dick, aber kein Ziegelstein. Auch die drei Titel auf dem Cover können sich in gleicher Schriftgröße nicht einigen, wer von ihnen nun Titel und wer nur Untertitel sein soll. Als könnten sich die LeserInnen das selbst aussuchen.

Schlägt man das Buch dann aber auf, zeigt es sich von strahlend heller Leichtigkeit und heiterer Souveränität. Das liegt zuerst an den wunderbaren Fotos des Münchner Simon Burko, die mit viel Weißraum großzügig auf den Seiten ausgebreitet werden, selten mehr als eines oder zwei auf einer Doppelseite. Die Fotos sind klassische Stadtraumbilder, die an Thomas Struth erinnern: der Himmel ist eine ebene, gleichmäßige, fast weiße Fläche, vor der die Häuser wie ausgeschnitten strahlen. Die Szenen sind wohl meist in den frühen Morgenstunden fotografiert, selten bevölkern Menschen die Straßen, manchmal treibt noch der Morgennebel vor den Häusern vorbei. Nur wenn es an die belebten Plätze geht, in den Olympiapark etwa, an die Isarauen oder in den Englischen Garten, dann werden die Fotos zu belebten Breitpanoramas, wie die Wimmelbilder eines Ali Mitgutsch, auf denen man endlos mit den Augen spazieren gehen kann.

Ja, manchmal tauchen in Burkos Fotos die Ecken der Stadt auf, die selbst dem Nicht-Münchner vertraut sind. Dort die Spitzen der Frauenkirche, hier die leere Theresienwiese als weite, unwirtliche Ebene, das Haus der Kunst, der Königsplatz, die Alte Pinakothek. Das sattsam Bekannte fehlt nicht. In der großen Mehrzahl führen sie uns aber in konzentrierter Stille an die ganz alltäglichen Stellen der Stadt, an austauschbare Ecken, die in der Summe den Charakter Münchens einfangen. Beschriftet sind die Aufnahmen nur selten und sparsam. Eher gelegentlich tauchen am oberen Bildrand kurze Angaben auf zu Bauwerk, Architekt, Bauzeit, manchmal die Größe. Auf manchen finden sich knappe Sätze, eher Beobachtungen als Erklärungen, wie in einem privaten Reisetagebuch vielleicht oder auf einer Postkarte: "In Döllgasts Stadtplan sind die Blöcke streng arrangiert, aber es gibt immer wieder Veränderungen im kleineren Maßstab, sodass eine Viezahl unterschiedlicher städtischer Situationen entsteht." – "Der Eingang zum Hofgarten durch einen Durchlass in einer Mauer, mit der die enorme Größe der Residenz versteckt wird." – "Das ornamentale Loch in der Mitte der Brücke reduziert ihr Gewicht und macht sie widerstandsfähiger gegen Hochwasser."

Maxburg
Altes technisches Rathaus

Die Bilder sind lose in fünf Kapitel sortiert, die "Big Form" heißen, "Fragments", "Dreams" oder "Re-use". Zwischen ihnen liegen nicht nur kurze Texte, die wie Briefe jeweils von Bates an Krucker oder umgekehrt adressiert sind, sondern vor allem auch Zeichnungen, wie die Fotos einzeln und großzügig auf dem Weißraum der Buchseiten ausgebreitet: Grundrisse, Schwarzpläne, Schnitte. Manche als große Übersichtspläne im Maßstab 1:5000, andere als Nahaufnahme eines detaillierten Wohngrundrisses. Neben den Fotos sind diese Zeichnungen der Schatz des Buches, sie sind in der Arbeit mit den StudentInnen entstanden, bei der immer wieder andere Stadtteile in den Fokus gerückt, genauestens erforscht und analysiert wurden. So ist zum Beispiel ein akribischer Stadtgrundriss entstanden, der für einen Großteil der Münchner Innenstadt die Erdgeschosszone erfasst und hier immer wieder in Ausschnitten gezeigt wird. So erhalten die Fotos eine dritte Dimension und eine räumliche Kontextualisierung, wie ich sie selten in einem Buch erlebt habe. Es ist an einigen Stellen, als würde man durch eine Tür im Foto in die Stadt treten und könnte dann eben auch sehen, was links und rechts hinter der Mauer steht, welche Raumsequenzen aufeinander folgen, statt wie sonst in der Fotografie in der eigenen Wahrnehmung immer nur im festgelegten Bildausschnitt festgeklebt zu werden.

So ist es ein heiteres Buch geworden mit einer dritten Dimension, die uns München vor Augen führt, wie wir es noch nicht gesehen haben. Und für den nächsten Ausflug hat das Buch jedenfalls eine ganze Menge Hinweise zu bieten, was wir uns noch lohnenswert anschauen könnten: Die Borstei zum Beispiel, Wolffs Block, den Alten Nordfriedhof oder, wer es ganz hart mag, die Regenwasserrückhaltebecken unter der Stadt – wie auch immer man diese erreichen kann. Die aufgeführten Fotos und Gedanken in diesem Buch werden uns jedenfalls helfen, die Münchner Innenstadt künftig mit anderen Augen und größerer Sorgfalt zu betrachten.

From the Room to the City
Herausgeber: Bruno Krucker und Stephen Bates
Gebundene Ausgabe
Deutsch und Englisch
352 Seiten
Park Books
ISBN 978-3-03860-288-0
49 Euro