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Carioca Bowls, Portland, Oregon

Kopfüber in die Parallelwelt

Andee Hess inszeniert, wo andere einrichten: Ihr fulminanter Hang zum Maximalismus gleicht einer Liaison von Wes Anderson und Alice im Wunderland. Das ist so surreal wie schön – und kann es sogar mit der KI aufnehmen.
von Susanne Maerzke | 03.07.2024

Es gibt keinen roten Faden, der sich durch das Interior Design von Andee Hess zieht. Vielmehr sind es rote, blaue und grüne Fäden, die sich verschlungen ihren Weg durch den Raum bahnen, intrinsisch verwoben und doch mit einer ungeheuer explosiven Kraft nach außen. Wer die Projekte der 45-jährigen Designerin aus Portland, Oregon, unter die Lupe nimmt, fühlt sich, als wäre er kopfüber in eine Parallelwelt getaumelt: Eine Welt aus fantastischen Farben und voluminösen Rundungen, aus bizarren Ideen und spektakulärer Spielfreude. Es ist viel, fast zu viel, was sich an knautschigen Stoffen, genoppten Oberflächen und ekstatisch geformten Rillenstrukturen durch den Raum wälzt und die Wahrnehmung von oben und unten, Wänden und Böden, Realität und Illusion, verschiebt. Und es ist wunderbar.

Andee Hess ist Kopf und Gründerin von Osmose Design, einem Kreativbüro an der Westküste der USA, das sich außergewöhnlichen Designentwürfen in Gastronomie, Retail und im High End-Residential-Segment verschrieben hat. Der Name ihres Studios sagt viel über die Art und Weise aus, mit der sich Hess neuen Projekten nähert: Er stammt vom lateinischen Wort "osmosis" ab, was den Fluss von Teilchen durch eine semipermeable Membran meint. Mit anderen Worten, erklärt Hess, absorbiere sie als Gesprächspartnerin alles, was ihre Kundschaft ihr bereit sei zu geben. Aus jenen Wünschen und Vorstellungen filtert die Designerin eine Essenz, die sich in individuell gefertigten Möbeln und einer einzigartigen Raumlandschaft niederschlägt: "Und dann ermuntere ich sie dazu, noch ein bisschen weiterzugehen." Genau diese vertrauensvolle, fast schon intime Zusammenarbeit hindert Hess daran, das gleiche Konzept wieder und wieder zu verkaufen, obwohl immer wieder Menschen auf sie zu kommen, die Bilder von ihren Projekten gesehen haben und jenes Interior im eigenen Zuhause verwirklichen möchten. Aber eine Wiederholung gibt es nicht: "Ich habe das Privileg, zu gewissen Anfragen 'Nein' sagen zu können. Oder eben 'Ja' zu sehr unterschiedlichen Aufträgen: Ein Musikvideo, eine Museumsinstallation, ein individuelles Zuhause. Ich möchte Projekte wahrnehmen, die ich noch nie zuvor gemacht habe."

J&M, Residential
J&M, Residential
J&M, Residential
Surrealestate 2.0, Residential

Human Design statt Künstlicher Intelligenz

Durch die Bereitschaft, die Grenzen des Möglichen ins Unkonventionelle, wenn nicht gar ins Unfassbare zu verschieben, ist Andee Hess‘ Interior Design in den USA sehr gefragt. Vom vergleichsweise kleinen Portland aus hat sie den Sprung nach Miami, Los Angeles und Las Vegas geschafft. Und bisweilen ist ihr das Erstaunen über den eigenen Erfolg noch anzumerken. In ihren Sätzen fällt oft das Wort "mutual", gegenseitig, was ihre Zuneigung zu Menschen im Allgemeinen und ihre eigene Neugier an fremden Projekten im Speziellen widerspiegelt. Es ist auch der Grund, warum sie ihr Studio Osmose Design mehr als 15 Jahre nach Gründung noch immer bewusst selbständig führt und lediglich mit einer weiteren Interior Designerin, Makrai Crecelius, fest zusammenarbeitet. "Natürlich könnte ich mir auch ein Imperium mit vielen Angestellten aufbauen", sagt sie. "Aber ich möchte weiter ganz nah dran sein." Was die Leute mitunter für KI-konzipierte Bildwelten halten, sind reale Motive aus Hess‘ Portfolio. Künstliche Intelligenz nutze sie mittlerweile in frühen Phasen der Konzeptualisierung, erzählt die Designerin. Sie erforscht und lotet aus. Ihre persönliche Beziehung zu AuftraggeberInnen kann eine KI aber nicht imitieren.

Überhaupt: Ob Kunst oder Auftragsarbeit, lässt sich bei den Projekten von Osmose Design manchmal schwer sagen. Einige Entwürfe wirken einem Wes Anderson-Film entsprungen, darunter auch Auftragsarbeiten für den öffentlichen Raum. Das Kino "Tomorrow Theater" ist so ein Beispiel, ebenso wie das Lokal "Carioca Bowls" in Portland. Darin überreizt Andee Hess gekonnt die menschliche Vorstellungskraft: Sie lässt schwungvolle Bögen und elliptische Möbel auf ein ekstatisches Farb-Layering prallen. 50 shades of peach? Alles machbar: Hess‘ Projekte sind im besten Sinne bewusstseinserweiternd.

Tomorrow Theater, Portland, Oregon
Andee Hess
Tomorrow Theater, Portland, Oregon

Appetit auf mehr

Fordernd und förderlich zugleich ist das, weil es Appetit auf mehr macht: Auf Design, Kunst, Kultur und Eiscreme, oder einfach nur darauf, zuhause auf der Couch zu sitzen und die formschön verwirbelte Raumgestaltung anzuschauen. Denn auch im Privatbereich lässt Hess ihre Stilblüten treiben: Mitunter wortwörtlich, wenn Blumenprints auf Schachbrettmuster treffen und sich mit geradezu andächtigen, sakralen Buntglasfenstern im Wohnbereich kreuzen.

Als "Tetris-Style" bezeichnete das die New York Times schon 2019 – und bescheinigt der Interior Designerin "a sense of wonder and surprise" in ihrer Arbeit. Tatsächlich erinnert der überbordende Einsatz von Materialien und Stoffen, die Hess übereinander häuft und rafft und schnürt, an die spielerische Traumwelt aus "Alice im Wunderland". Selbst das berühmte Zitat des verrückten Hutmachers könnte von ihr stammen: "Das Unmögliche zu schaffen, gelingt einem nur, wenn man es für möglich befindet." Andee Hess hat dafür eigene Worte gefunden: "Osmose is pushing it."