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Sigurd Lewerentz

Architekt und Mythos

Es passiert nicht allzu häufig, dass zu einem historischen Architekten wie Sigurd Lewerentz fast zeitgleich zwei Publikationen unabhängig voneinander erscheinen. Zudem widmet sich eine Ausstellung in Stockholms Architekturzentrum ArkDes ganz seinem Leben und Schaffen von 1885-1975. Es muss also etwas in der Luft liegen, worauf sich das aktuelle Interesse gründet. Aber was ist das?
von Florian Heilmeyer | 24.12.2021

Das Mysterium…

Es ist ja nicht so, dass mit Lewerentz ein völlig Unbekannter entdeckt wird. Seine Rolle als einer der wichtigsten Protagonisten der skandinavischen Moderne ist schon lange unbestritten. Das liegt nicht nur an seiner wichtigen Beteiligung an der "Stockholmer Ausstellung", die 1930 die Moderne vom europäischen Festland nach Schweden brachte, sondern vorrangig an den fünf wichtigsten Werken: zwei Friedhöfe in Malmö und Stockholm – den einen betreute er von 1915 bis 1961, den anderen von 1916-1969, also quasi durch sein gesamtes Berufsleben – sowie die beiden beeindruckenden Kirchen St. Mark’s in Stockholm (1958-63) und St. Peter’s in Klippan (1963-66). Von den fünfen ist einzig das Musiktheater in Malmö (1933-44) kein sakrales Werk. Vor allem die beiden Kirchenbauten sind immer wieder von höchst unterschiedlichen ArchitektInnen, FotografInnen, AutorInnen und TheoretikerInnen – darunter Jørn Utzon, Stephen Bates, Reyner Banham oder Hélène Binet – als Referenzen genannt worden; für Räume, die sie persönlich am heftigsten berührt haben, und als Gebäude, die jede/r, die/der sich auch nur ein wenig für Architektur interessiere, unbedingt selbst gesehen haben sollte. Gleich Wallfahrten inklusive architektonischer Erweckungserlebnisse sind die Begegnungen mit diesen Häusern beschrieben worden.

Sigurd Lewerentz, 1985

Somit geisterte der Name Sigurd Lewerentz als Referenz durch die Literatur und Architektur des 20. Jahrhunderts, und bekam einen gleichsam mystischen Klang. Dazu trug wahrscheinlich bei, dass Lewerentz ein insgesamt schwer zu greifender Architekt war, sowohl in seinem Werk als auch als Person. Einer, der lieber in seinem Studio arbeitete als Vorträge zu halten oder Texte zu schreiben. Einer, der wenig Kontakte pflegte, wenig MitarbeiterInnen hatte, nie an einer Hochschule lehrte und zudem zeitlebens fast alle Einladungen nach England oder Amerika ausschlug. Aber was er baute, das hatte fast immer einen faszinierenden Detailreichtum und eine so fantasievolle Vielfalt zu bieten, das man kaum glauben konnte, das es von nur einem Architekten erdacht worden war. Lewerentz hatte keine Handschrift, sondern gab sich mit Inbrunst jeder einzelnen Aufgabe hin und entwickelte absolut individuelle architektonische Antworten, immer bis in die letzten Details. Meist war er auch selbst fast täglich auf den Baustellen vor Ort. Das ist der Kern der Faszination und des Mysteriums von Lewerentz und auch der Grund, warum selbst der wortgewaltige Architekturtheoretiker Reyner Banham, der sonst vor keiner Einordnung zurückschreckte, ihn einst als "den härtesten der harten Fälle" beschrieb, der einfach in keine Schublade passen wollte.

…und seine Enträtselung

Es ist eben dieses Mysterium, dass die beiden aktuellen Bücher enträtseln wollen – ihre Strategien sind dabei ganz unterschiedlich. Das erste der beiden Bücher versucht es durch Vollständigkeit: "Sigurd Lewerentz: Architect of Death and Life" ist ein wahrer Koloss von einem Buch. Es stellt sich selbst als das bisher "umfänglichste" Buch zu Sigurd Lewerentz vor. Nun, welch Kunststück, es ist ja auch 23 x 30 x 5,5 Zentimeter groß, 712 (!) Seiten lang und knapp vier Kilo schwer. Wäre mein Schreibtisch ein Haus, dieses Buch würde nicht durch die Tür passen, sondern müsste mit dem Kran durchs Fenster geliefert werden. Alleine die ausführliche Beschreibung von Lewerentz’ Biografie nimmt 184 Seiten in Anspruch, es folgen 80 Seiten mit aktuellen Fotos von Lewerentz’ Gebäuden, die der schwedische Architekturfotograf Johan Dehlin im Sommer 2020 aufgenommen hat – menschenleer und knochentrocken, aber mit einem hervorragenden Auge für Details und die Einbettung der Häuser in ihre Umgebungen. Achten Sie beim Blättern nur einmal auf die Vielzahl an völlig unterschiedlichen Fenster- und Dachanschlüssen, auf die Möbel, die Lewerentz fast immer selbst entwarf, auf Handgriffe und Türklinken, auf Kerzenhalter, Dachkonstruktionen oder auch nur auf die völlig unterschiedlichen Mauerwerksverbände der verschiedenen Backsteinwände.

Ein wenig schade nur, dass die Gelegenheit versäumt wurde, hier auch die weniger bekannten Häuser stärker zu durchleuchten. Ein Großteil der neuen Fotos von Dehlin beschäftigt sich mit den bekanntesten Werken, also insbesondere mit den zwei Friedhöfen und den beiden Kirchen. Das wird allerdings auf den folgenden 380 (!) Seiten mit Archivmaterial ausgeglichen. Hier finden sich hunderte von Zeichnungen und historische Fotos zu fast allen Projekten, gebaute und ungebaute. Hier wird auch die Vielfalt von Lewerentz’ Lebenswerk am eindrücklichsten eingefangen. Wie sein Weg von einem strengen nordischen Neoklassizismus mit allerlei wuchtigen Giebeln über schweren Säulen erst zu einer ebenso strengen skandinavischen Moderne führte. Und dann in eine ganz eigene, individuelle Radikalität der unverkleideten, nackten Materialien, auf denen alle Kabel- und Leitungsführungen zum sichtbaren, architektonischen Ausdruck wurden. Diese stilistische Vielfalt zu entwickeln, die manche als Widerspruch empfinden, dauerte bei Lewerentz 60 Jahre. Sie lässt sich heute übrigens ganz wunderbar einfach besichtigen: Denn glücklicherweise liegen auf dem Ostfriedhof in Malmö nur wenige hundert Meter zwischen der klassizistischen St. Brigitta-Kapelle (von 1918) und dem grandios brutalistischen Blumenkiosk (von 1969) mit seinem tiefen Pultdach aus patiniertem Kupfer und den rotzigen Seitenwänden aus quadratischen Betonplatten mit fast rahmenlos davor geschraubten Panoramafensterscheiben. Wie gesagt, von alleine würde man nicht darauf kommen, dass beide Gebäude von demselben Architekten stammen.

Das zweite Buch – "Pure Aesthetics" – wählt eine völlig andere Strategie. Statt um Vollständigkeit geht es den AutorInnen um eine geradezu penible Genauigkeit, indem der Fokus auf einem einzigen Gebäude liegt: der St. Mark’s-Kirche bei Stockholm. Das Buch ist auch gleich wesentlich kompakter, bietet dabei im Inneren aber ein ähnlich entspanntes, luftiges Layout mit viel Weißraum. Die zwei AutorInnen, die Fotografin Karin Björkquist und der Architekt Sébastien Corbari, sagen, sie hätten Jahre damit verbracht, wieder und wieder zu der kleinen Kirche zu fahren, um sie zu erforschen. Man glaubt es ihnen leicht angesichts des überaus genauen fotografischen Blicks, der sich hier auf über 200 Fotografien entfaltet. Am Ende des Buchs hat man den Eindruck, dass man wirklich in jede Ecke und hinter jede Tür, auf jeden Beschlag, jedes Treppengeländer, jeden Stuhl und Tisch und sogar auf den Mechanismus geblickt hat, mit dem die übergroße Bronzeglocke geläutet wird.

Kapelle der Auferstehung. Der Waldfriedhof, Stockholm.
Krematorium. Ostfriedhof, Malmö.

Tatsächlich laufen wir in diesem Buch gedanklich erst in immer engeren Kreisen um das ganze Haus, die verschiedenen Kirch- und Klosterhöfe und schließlich durch die Eingänge nach innen. Durch Lobby und Foyer in die Kirche, und anschließend hinauf in die Büros und Besprechungsräume. Staunend blicken wir auf die unendliche Vielfalt an Details der Backstein- oder Sperrholzwände, der Fensterrahmen und schmalen Holztüren, die wirken als wären sie mit leichter Hand in die weiche Sichtbetonwand gedrückt worden. Wo das erste Buch 700 Seiten braucht, um uns über Lewerentz’ Einfallsreichtum stauen zu lassen, braucht dieses zweite Buch "nur" 350 Seiten. Und wieder entsteht der Eindruck, dass all diese Räume mit ihrer unendlichen Vielfalt an unterschiedlichen Ausstattungsdetails nicht von ein und demselben Architekten stammen können, ja, dass sie nicht einmal in ein und demselben Haus liegen mögen. Einen eigenen Besuch des Gebäudes kann auch dieses Buch zwar nicht ersetzen – aber es kommt in seiner verliebten Präzision dem Vor-Ort-Besuch so nahe wie es ein Buch nur schaffen kann.

Innenhof St. Mark's Kirche, Stockholm

So bleibt als Fazit nur, dass dies zwei wunderbare Architekturbücher sind, die nicht nur jenen ans Herz gelegt sein sollten, die sich sowieso schon für Lewerentz oder die nordische Moderne interessieren, sondern tatsächlich auch allen, die sich überhaupt für Architektur und die Faszination von Räumen begeistern können. Das wunderbare Mysterium Lewerentz scheint damit in aller Gründlichkeit erforscht. Zum Glück ohne den Mythos dadurch zu vertreiben – der wird durch diese beiden kolossalen Bücher eher noch verstärkt.

Tipp: "Sigurd Lewerentz. Architect of Death and Life"
Noch bis 28. August 2022
ArkDes Stockholm
Exercisplan 4
111 49 Stockholm

+46 (0)8-520 235 00

Sigurd Lewerentz: Architect of Death and Life
Hrg: Kieran Long, Johan Örn und Mikael Andersson für ArkDes Stockholm
Grafik: Malmten Hellberg
Hardcover, 23x30 Zentimeter, 712 Seiten, Englisch
Park Books, Zürich 2021
ISBN: 978-3-03860-232-3

120 Euro

Sigurd Lewerentz: Pure Aesthetics. St. Mark’s Church
Hrg.: Karin Björkquist und Sébastien Corbari
Grafik: Henrik Nygren Design
Hardcover, 20x27 Zentimeter, 352 Seiten, Englisch
Park Books, Zürich 2021
ISBN: 978-3-03860-243-9

65 Euro