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Modernisierung Entwurf Eingang und Warten, Pädiatrie, Pro Homine, Wesel

GESUNDHEIT
Aufenthaltsqualität für alle

Sylvia Leydecker ist Innenarchitektin und führt ihr Büro "100% interior" in Köln. Nanotechnologie und Gesundheit sind zwei ihrer zentralen Themen, zu denen sie zahlreiche Projekte, Publikationen und Vorträge realisiert hat. Im Interview besprechen wir Chancen und Ziele – für die GestalterInnen wie für die NutzerInnen.
25.09.2023

Anna Moldenhauer: Die Publikation "Nanomaterial in Architektur, Innenarchitektur und Design" erschien 2008. Wo ist die Reise seitdem hingegangen?

Sylvia Leydecker: Das Buch ist gerade wieder sehr gefragt, die deutsche Ausgabe ist aktuell ausverkauft (Anm.d.Red. die Publikation ist auch in englisch und als E-Book erhältlich). Ich habe vor kurzem die Abschnitte "Ökonomie" und "Ökologie" erneut gelesen, und kann noch jedes einzelne Wort unterschreiben, was ich damals dazu verfasst habe. Die Beschäftigung mit dem Thema war 2008 in der Breite seiner Zeit voraus. Tatsächlich wurde seitdem in der Industrie mehr mit Nanomaterialien gearbeitet, die Technologie weiterentwickelt. Parallel gab es in den Folgejahren auch einige Diskussionen um eine mögliche toxische Wirkung. Ich bin der Meinung, dass man bei diesem Thema nicht alles über einen Kamm scheren darf. Es braucht eine Abschätzung von Nutzen, Risiko und Chancen. Letztere sind oft größer, zudem es sich um eine technologische Innovation und Schlüsseltechnologie handelt. Bei jeder Autofahrt z.B. besteht die Gefahr eines Unfalls und trotzdem nutzen wir das Fahrzeug, weil wir Nutzen und Risiko abwägen, oder auch in der Medizin wo die Chemie lebensnotwendig ist. Ein Aspekt, den ich damals in dem Kontext thematisiert habe, war, dass der Fortschritt im Bauwesen mit seiner langen Wertschöpfungskette sehr langsam vorangeht. Da hat sich nun einiges verändert, es geht technologisch innovativer nach vorne. Der alleinige Fokus auf den Bau mit Holz wird in der Masse nicht funktionieren, denn damit würden wir unsere Wälder und Ökosysteme vernichten. Ich denke, eine Symbiose aus beiden Welten ist die Lösung. Die Zeit ist jetzt reifer, es gibt eine andere Qualität in der Kommunikation und Sinn für ein globales Gefahrenmanagement für Sicherheit und Nachhaltigkeit. Die Thematik kann nun eine andere Qualität in der Breite bekommen. Eine Anfrage, die ich vor kurzem auf Basis der Buchveröffentlichung erhalten habe, ist zudem die Teilnahme am Designing the Future Summit, der am 25. und 26. Oktober 2023 in Berlin stattfindet.

Gibt es aktuell ein Projekt im Bereich der Nano-Architektur, welches Sie unseren LeserInnen als Beispiel vorstellen könnten?

Sylvia Leydecker: Den hochfunktionalen Wandbelag "ccflex Stardust" haben wir beispielsweise in Zusammenarbeit mit Evonik Creavis entwickelt. Er ist inspiriert von Nanoschäumen, die im All Sternenstaub mit der Sonde "Stardust" einsammelten. Der Wandbelag wurde vielfach mit Designpreisen ausgezeichnet. An der Industrie ist er dennoch leider gescheitert, weil er im Grunde ein Fliesenersatz ist – das wollte man damals nicht fördern. Allgemein fließt das Thema Nano-Architektur in meine Projekte immer mal wieder mit ein, wie in Form einer leicht zu reinigenden Oberfläche. Was mir nach wie vor fehlt, ist das ein Gesamtkonzept mit smarten Materialien bei uns beauftragt wird, wo wir beispielsweise mit einem "Phase-Change"-Material starten, das die Möglichkeit gibt, Energie zu sparen, Temperaturpuffer zu erzeugen.

Sylvia Leydecker

Gibt es etwas, dass wir im Umgang mit Nanotechnologien anders machen müssten?

Sylvia Leydecker: Stichwort Nutzen-Risiko-Vorabschätzung. Die Kommunikation der Technologie war damals ein Problem, daher habe ich das Buch geschrieben. Der Austausch zwischen der Gestaltung und der Wissenschaft funktionierte einfach nicht, auch wenn es Bestrebungen für ein Miteinander gab. Da Architekturbüros nun tatsächlich mehr in den Bestand gehen, kann weiter kommuniziert werden, dass es nicht immer ein Entweder-Oder sein muss, sondern eine Symbiose aus Alt und Neu. Die Nanomaterialien werden vermehrt in die Normalität integriert, sind nicht mehr nur ein abgefahrenes Experiment der NASA. Mit Blick auf die Architektur verändert sich auch die Wahrnehmung, was ein Signature Piece ist. Die wird es sicherlich weiterhin geben, aber in anderer Form, wie mit Blick auf die begrünten Zwillingstürme "Bosco Verticale" von Stefano Boeri. Was ich spannend fände, wäre ein superschlanker, materialeffizienter, leichter Beton wie UHPC, dazu eine Zusammenarbeit mit einem Landschaftsarchitekturbüro für eine Leichtbaukonstruktion, um die Traglast zu mindern oder dass Carbonbeton die Tragfeder wäre. Im Moment werden Hochhäuser noch sehr aufwändig gebaut, da bewegen wir uns gefühlt in der Steinzeit. Um einen ganzheitlichen Wandel anzustoßen, müssen wir zusammenarbeiten. Der Prozess der Veränderung ist immer noch viel zu langsam. Über Konsumverzicht wurde beispielsweise bereits in den siebziger Jahren geschrieben. Heute ist das Thema wieder bei der jungen Generation aktuell, wie auch der Klimaschutz. Wir müssen einfach deutlich schneller werden, da muss mehr Druck rein!

Rems-Murr-Klinikum Winnenden, Privatzimmer Wöchnerinnenstation

Ein weiterer Themenbereich, in dem Sie sehr aktiv sind und der sich ebenso aktuell verändert, ist die Innenarchitektur für Heilung und Pflege. Auch dazu ist ein Buch von Ihnen erschienen, "Das Patientenzimmer der Zukunft". Was ist bei einer Raumgestaltung zu beachten, die für eine Person gedacht ist, die körperlich oder seelisch erkrankt ist?

Sylvia Leydecker: Im Gesundheitswesen ist der Raum eine sehr komplexe Angelegenheit. Aus meiner Perspektive ist das Zimmer für die PatientInnen das Herzstück. Ich finde interessant, dass Sie in der Frage seelische und körperlich Erkrankungen trennen. Beide gehen im Grunde zusammen, auch wenn sie medizinisch separat betrachtet werden.

Absolut. Dennoch wird das jeweilige institutionelle Angebot kategorisiert. Zudem ist für eine Geburtenstation beispielsweise eine andere Gestaltung gefragt, als für die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie. Wie begegnen Sie diesen Anforderungen?

Sylvia Leydecker: Die emotionale Komponente und die Verweildauer sind bei der Gestaltung für mich ausschlaggebend. Es geht darum eine Aufenthaltsqualität zu erreichen, für die PatientInnen wie für das Personal. Ich bin überzeugt davon, dass es eine starke Wechselwirkung zwischen dem Raum, dem Patient/ der Patientin, den MitarbeiterInnen und auch den Angehörigen gibt. Die Differenzierung erfolgt für mich bei den Krankheitsbildern. Bei Geburtsabteilungen ist beispielsweise die "Zielgruppe" naturgegeben etwas jünger, in der Orthopädie meist etwas älter. Dementsprechend unterschiedlich trete ich an die Gestaltung heran. In den Entbindungsstationen der Krankenhäuser wurde bereits recht früh modernisiert, um auch in wirtschaftlicher Hinsicht attraktiv zu bleiben. Je mehr schwangere Frauen sich zum Beispiel für die Geburtsstation eines Krankenhauses entscheiden, umso höher sind dessen Einnahmen beziehungsweise Fälle in dem Bereich. Ein Krankenhaus ist allerdings kein Hotel! Die Gestaltung muss die Arbeitsprozesse miteinbeziehen. Da geht es um Hygiene wie um Sicherheit, Unterhaltskosten, genauso wie um Orientierung. Oft muss man sich als BesucherIn im Krankenhaus durchfragen, um zu der gewünschten Station zu kommen, weil die Orientierungshilfen fehlen.

Ihre Herangehensweise an die Projekte ist somit individuell geprägt.

Sylvia Leydecker: Mit Blick auf die Differenzierung am Anfang ja. Andere Aspekte wie die Prozessqualität, die Sicherheit, die Hygiene und das emotionale Befinden sollten überall gegeben sein. Wir brauchen ein Setting, das Heilung fördert. Parallel ist es für die Krankenhäuser wirtschaftlich sinnvoll wenn viele PatientInnen parallel behandelt werden, die aber jeweils mit kurzer Verweildauer nicht lange bleiben – beispielsweise im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung.

LVR-Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik, Wahlleistung Privatstation, Köln

Die Anforderungen an eine Gestaltung, die auch Hygiene- und Sicherheitsbestimmungen miteinschließt, zeigt sich beispielsweise an Textilien, die waschbar sein müssen, an Oberflächen, die desinfizierbar sein müssen, an der vorgegebenen Breite für die Gänge und Türen. Wie schaffen Sie es, bei diesem vielfältigen Regelwerk noch frei zu gestalten?

Sylvia Leydecker: Ich finde es super, dass Sie das ansprechen, denn die Rahmenbedingungen sind tatsächlich komplex. Die Fläche ist ein Problem, denn umso mehr Fläche zur Verfügung steht, umso flexibler ist die Nutzung eines Raums. Die Neubauten sind stattdessen von vorneherein oftmals an Subventionen und Flächendefinitionen gebunden und flächeneffizient angelegt. Um die Betten herum steht so kaum Raum zur Verfügung. Diese Ausgangssituation kann ich nicht verändern, aber ich kann das Beste daraus machen. Die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten bei einem Projekt können dabei auch zu Zielkonflikten führen, denn jede Person, von der Reinigung bis zur Chefärztin oder dem Chefarzt oder Verwaltungsdirektor hat andere Prioritäten. Mein Job ist es, eine Klaviatur zu spielen, Empfehlungen auszusprechen, Freiräume auszuloten. Ich lerne bei jedem Projekt dazu und investiere eine gute Portion Idealismus und Zeit. Sicher auch um dem hohen Anspruch, den ich an meine Arbeit selbst habe, gerecht zu werden.

Haben Sie im Zuge des Entwurfes auch die Gelegenheit, mit PatientInnen über deren Perspektive zu sprechen oder an Studien hierzu anzuknüpfen?

Sylvia Leydecker: PatientInnen werden nicht in die Gesprächsrunden eingebunden. Möglichkeiten an Studien anzuknüpfen, gäbe es, aber das, was dort meist beschrieben wird, sind für mich selbstverständliche Aspekte. Natürlich ist der Blick ins Grüne schöner als auf den kargen Hinterhof, und das Personal fühlt sich wohler in einem gut gestalteten Aufenthaltsraum als in einer fensterlosen Abstellkammer. Da wundere ich mich manchmal, dass wir wirklich Studien brauchen, um das zu belegen und dann erst umzusetzen. Eigentlich sollten die Menschenkenntnis und Lebenserfahrung dahingehend ausreichen. Auch hinsichtlich der Raumwirkung, den Materialien oder wie sich Menschen durch einen Raum bewegen, sind wir natürlich auch durch unsere Ausbildung geprägt. Ich verwende ab und an Aspekte, um eine Feststellung zu untermauern, damit sie evidenzbasiert ist – also den Nutzen für die PatientInnen bewertet. Wenn man ausschließlich nach Studien und Standards gestaltet, kommen selten Räume dabei raus, in denen man sich wohlfühlt.

Ein Beispiel ist die kürzliche Modernisierung der Eingangshalle des Pro Homine, St. Willibrord-Spital Krankenhaus in Emmerich. Wir konnten vor Ort sehr gut beobachten, wie die Raumgestaltung die Atmosphäre positiv beeinflusst hat. Das Fazit einer Person dort war wörtlich: "Das ist ja auch viel toller als vorher. Früher sind wir hier abgefertigt worden, beziehungsweise haben uns so gefühlt. Und mittlerweile fühlt man sich willkommen und hält sich hier gerne auf." Ebenso hat uns bei einem anderem Projekt, für das wir eine geriatrische Station gestaltet haben, das Personal berichtet, dass sie nun viel weniger Stress haben und auch die PatientInnen selbst weniger Aggressionen und Verhaltensauffälligkeiten zeigten, die Angehörigen gerne länger blieben. Oder leider auch, dass die PatientInnen mitunter weinen bei ihrer Entlassung, weil Sie anschließend in ein Altersheim müssen, das diese Aufenthaltsqualität nicht hat. Aus all diesen Erfahrungen eine Studie zu erstellen, dafür fehlt mir bisher die Zeit. Stattdessen lasse ich die Erkenntnisse in meine Vorträge und Arbeit einfließen.

Schloss Gracht, Psychosomatik Privatklinik, Erftstadt
Sanierung Foyer St. Willibrord, Pro Homine, Emmerich

Welche Möglichkeiten eigene Ideen in die Gestaltung einzubringen, nutzen Sie noch?

Sylvia Leydecker: Ich habe beispielsweise eigene Produktdesigns entwickelt, wie die Bodenbelagskollektion "noraplan sentica" mit nora systems, die Bank "Kahuna" und Sitzskulpturen "Talau", mit smv Sitzmöbel oder den Griffentwurf "Sonic Romance", für Häfele. Es ist super, wenn man die Produkte, die man im Projekt braucht, gleich mitentwickelt. Ich denke beim Entwurf immer in alle Richtungen. Wichtig ist, dass es am Ende funktioniert und über einen langen Zeitraum bestehen kann.

Sie sind in Ihrer Ausbildung sowie in Ihrem jetzigen Beruf als Innenarchitektin wie in den vorherigen Stationen sehr viel gereist – gibt es einen Ansatz in den östlichen Kulturen, der sich fundamental von unseren westlichen "Healing Environments" unterscheidet?

Sylvia Leydecker: Insbesondere in meinem Auslandsstudium an der Universität in Jakarta habe ich erfahren können, dass es vorrangig um Harmonie und Balance, Ausgewogenheit und Sinnhaftigkeit geht und das meist in Verbindung mit der Natur – alles hängt zusammen. Diese Haltung hat mich in meiner Arbeit sehr geprägt. Unser reglementiertes, duales System, das die PatientInnen in gesetzlich und privat versichert einteilt, gibt es so international gesehen nicht. Die Selbstzahlungskosten sind in den meisten Ländern immens hoch. Zudem müssen sowohl die PatientInnen wie das Personal in vielen Bereichen der Welt – abgesehen von rarem Luxus - mit den einfachsten Bedingungen zurechtkommen, sprich eine Aufenthaltsqualität ist im Grunde nicht vorhanden, die Angehörigen müssen sich selbst um die Speisenversorgung kümmern et cetera. Hierzulande diskutieren wir in der Wahlleistung darüber, ob die Törtchen aus der Tiefkühltruhe kommen oder nicht und dort schlafen die PatientInnen teils auf dem Boden. Da wird nichts erforscht, es wird sich einfach mit dem wenigen arrangiert, was zur Verfügung steht. So betrachtet ist unsere Gesundheitsversorgung schon super.

Was ist die Idee Ihres Konzepts "Soulspace"?

Sylvia Leydecker: Die Basis war die Frage, wie lassen sich möglichst viele Krankheitsbilder mit neuen Technologien auffangen? Die Antwort ist ein 3D-Druck-Konstrukt, materialeffizient, flexibel, modular. Ein smarter OLED-Cocoon, in dem PatientInnen durch die Anwendung neuer Technologien, Digitalisierung und Materialien genesen, ein gestalterischer Impuls. Der "Soulspace" könnte auch als kommunikatives Element die Gesundheitsdaten der PatientInnen speichern, so dass alles Hand in Hand geht. Ich denke man sollte nicht stur in den Raum hineinschauen, sondern eine Vernetzung anstreben, die individuell und atmosphärisch sein kann. Bis in alle Ewigkeit Spanplatte, HPL, Vinylboden kann nicht die Zukunft sein. Wir müssen case-based medizinische Expertise erzeugen, bezüglich der Krankheitsbilder, wie auch für die damit verbundene Krankheitsbilderdifferenzierung. Dann ist es auch möglich individueller auf diese einzugehen. Die multisensuelle Ebene muss gezielt genutzt werden, je nach individueller Anforderung der Situation.

Visionäres VR-Smart Soulspace Patientenzimmer

"Das Patientenzimmer der Zukunft" haben Sie 2017 veröffentlicht. Was würden Sie sagen, brauchen wir jetzt, sechs Jahre später, am nötigsten?

Sylvia Leydecker: Da würde ich sagen, eine Aufenthaltsqualität für alle. Das stört mich schon lange, dass ich etwas für die Wahlleistung realisiere, das für die Regelleistung nicht zugänglich ist – obwohl ich weiß, dass die Umsetzung auch in der Regelleistung eigentlich möglich wäre. Gestaltung kann man nicht in eine Excelliste packen. Ich halte es nebenbei bemerkt für einen Fehler, dass in diesem frühen Stadium der Krankenhausreform das Bauliche und damit dessen Innovation nicht mitbedacht wird.

Eine ganzheitliche Gestaltung ist gefragt.

Sylvia Leydecker: Genau. Eine ganzheitliche Gestaltung, die eine hohe Aufenthaltsqualität für alle schafft.

BUCHTIPPS

Nano Materials in Architecture, Interior Architecture and Design
Autorin: Sylvia Leydecker
Sprache: Deutsch, Englisch
Hardcover
192 Seiten
2008, Birkhäuser Verlag GmbH
ISBN: 978-3-7643-7995-7
24,95 Euro

Das Patientenzimmer der Zukunft: Innenarchitektur für Heilung und Pflege
Autorin: Sylvia Leydecker
Birkhäuser, 2017
Sprache: Deutsch
Hardcover
176 Seiten, ISBN: 303-8-214-922
59,95 Euro

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