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Zeltdach- und Seilnetzkonstruktionen: Tanzbrunnen für die Bundesgartenschau in Köln 1957, Frei Otto mit Ebwald Bubner. Foto © Universität Stuttgart, ILEK
Vom Tuch zum Haus
von
01.05.2001

Baldachin, Schirm, Vorhang, Zelt, Ballon: Die Ursprünge textilen Bauens sind vielfältig und lassen sich über Jahrtausende zurückverfolgen. Das Zelt, eine Urform der menschlichen Behausung, dient den Nomaden auch heute noch als Schutz vor Witterungseinflüssen und neugierigen Blicken. Die sesshaften Völker hingegen verwendeten Zelte ab der Antike bis ins 19. Jahrhundert nur noch für militärische und höfische Zwecke, später dann als temporäre Überdachungen für Jahrmärkte und Feste. Die Konstruktion bestand aus einem mit einer Plane bedeckten Gestell, wie es auch heute noch bei Zirkuszelten zum Einsatz kommt.

In den 1950er Jahren erfuhr die Konstruktion einen Innovationsschub, als das Zelt auch in der Architektur entdeckt wurde. „Ist es nicht merkwürdig, dass (...) rund um die Welt die guten Baumeister Zelte bauen, leichte offene Dinge?“, fragte etwa 1951 der Nachkriegsarchitekt Hans Schwippert während des Symposiums „Darmstädter Gespräch“ zum Thema Mensch und Raum.

Die neue Leichtigkeit des Bauens

Maßgebliche Impulse setzte die Arbeit des Architekten und Ingenieurs Frei Otto. Seine vorgespannten Membran- und Seilnetzstrukturen zeigten eine neue Form des Bauens: leicht, veränderbar und an den gestalterischen Prozessen der Natur orientiert. Die Studien und Projekte, die von seinen Forschungseinrichtungen sowie dem Institut für leichte Flächentragwerke in Stuttgart ausgingen, dienten Architekten weltweit als Anregung.

Ottos erste Zeltkonstruktionen wie zum Beispiel das Tanzbrunnendach, welches er 1957 zur Bundesgartenschau in Köln entwickelte, waren nur als temporäre Bauten gedacht und noch mit Membranen aus Baumwollsegeltuch überspannt. Schon kurze Zeit später wurden diese durch Kunststoffgewebe und -folien ersetzt, die ab der Mitte der 1950er Jahre für Membrantragwerke entwickelt wurden und von längerer Lebensdauer waren. Seitnetzkonstruktionen erlaubten zudem größere Spannweiten.

Ins Netz gegangen

Internationale Aufmerksamkeit erlangte Frei Otto mit dem Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal 1967. Zusammen mit Rolf Gutbrod entwickelte er dafür die erste große vorgespannte Seilnetzkonstruktion der Welt, die kurz darauf zum Vorbild für die Überdachung der Hauptsportstätten im Olympiapark München für die Sommerspiele 1972 werden sollte. Zwar handelt es sich bei den beiden Bauten nicht um textile Architektur im engen Sinne, jedoch zählen auch sie zu den zugbeanspruchten Tragwerken und weisen die gleichen Eigenschaften wie Membranen auf. In ihrer Einzigartigkeit waren sie damit maßgebend für weitere Entwicklungen im textilen Bauen.

Zu groß für Olympia

Die Maße des von den Architekten Günther Behnisch und Fritz Auer entworfenen Olympiadachs erschienen den Preisrichtern zu Beginn als nicht umsetzbar. Dennoch gewann der kühne Entwurf und wurde anschließend mit mehreren Experten, darunter Frei Otto, überarbeitet. Letzterer war es auch, der die sattelförmig doppeltgekrümmten Netze mit Hilfe von Tüll- und Strumpfmodellen konzipierte, die den Bau des
74.000 m2 großen Daches ermöglichten und ihm seine charakteristische Form gaben. Während das Seilnetz in Montreal mit einem PVC-beschichteten Polyestergewebe unterspannt wurde, bestand die Dachhaut des Münchner Olympiastadions aus transparenten Plexiglasplatten. Die in den Bauteilen wirkenden Kräfte wurden damals durch komplexe Messmodelle simuliert, um die Konstruktion und die Bauteilzuschnitte zu optimieren. Heutzutage werden diese Berechnungen mit speziellen Computerprogramme durchgeführt.

Das Zelt wandelte sich vom mobilen Objekt zur permanenten Architektur und wird heute, auch dank verbesserter Materialentwicklungen, als vorgespannte Membrankonstruktion überwiegend zur Überdachung von Sport-, Messe- und Industriebauten eingesetzt. Darüber hinaus werden Membranen auch in Form von fassadenverhüllenden Vorhängen oder gespannten Membranen für vertikale Raumabschlüsse wie etwa beim „Curtain Wall House“ von Shigeru Ban verwendet.

Wandelbare Dächer

Auf Grund ihres geringen Gewichts eigenen sich Membrantragwerke besonders für wandelbare Konstruktionen. Schon die Römer nutzten zum Schutz vor Sonneneinstrahlung die sogenannten „Vela“ (lat. für Segel), aus denen sich im 16. Jahrhundert in Spanien die raffbaren „Toldos“ entwickelten.

Einem ähnlichen Prinzip folgt zum Beispiel das von SL-Rasch konzipierte Faltdach über dem Innenhof der 1987 neu errichteten „Quba-Moschee“ in Medina, das mithilfe eines elektrischen Antriebes eingefahren werden kann. Wandelbare Dächer werden heute meist für Sportarenen eingesetzt wie für die von Werner Sobek und Schweger+Partner entworfene Überdachung des Rothenbaum-Stadions in Hamburg, die sich über radial angeordnete Stahlseile öffnen und schließen lässt. Zur Verschattung und Klimaregulierung von Innenhöfen, Plätzen und Bühnen werden zudem auch Schirmkonstruktionen genutzt. Die ersten wandelbaren Großschirme konzipierte Frei Otto mit Bodo Rasch und Edwald Bubner 1971 für die Bundesgartenschau in Köln. Das derzeit größte wandelbare Dach aus 250 Großschirmen baute SL-Rasch 2011 zur Beschattung der Piazza um die Moschee des Propheten in Medina.

Luft als Baustoff

Während die zuvor genannten Konstruktionen in ihrer Form durch die Schwerkraft bestimmt werden, wirkt bei den pneumatischen Konstruktionen Luft als formgebendes Element. Erste Versuche mit durch Überdruck gestützten Membranen unternahm Mitte des 20. Jahrhunderts Walter Bird in den USA. Er war als Luftfahrtingenieur von der US Armee beauftragt worden, eine metallfreie Schutzhülle für die empfindlichen Radarsysteme zu entwickeln, die nach dem Zweiten Weltkrieg vermehrt eingesetzt wurden. 1948 gelang ihm dann die Konstruktion des ersten luftgestützten Radoms (Schutzhülle für Antennen) aus neoprenbeschichtetem Glasfasergewebe, das zum Vorbild für weitere pneumatische Bauten wurde.

In Europa war es erneut Frei Otto, der sich als einer der Ersten mit diesem neuen Konstruktionsprinzip der „Luft als leichtesten Baustoff“ auseinandersetzte und Formfindungsmethoden im akademischen Kontext untersuchte. Auch befasste er sich, wie Buckminster Fuller, mit Stadt- und Lebensraumutopien, die von der Umkehr traditioneller Rollen und Konstruktionsprinzipien bei pneumatischen Bauten inspiriert waren.

Künstler entdecken die Pneus

Aufgrund ihres geringen Materialaufwands und der relativ einfachen Montage avancierten die Pneus ab den 1960ern schnell zur beliebten Konstruktion für Tennis- sowie Schwimmbadüberdachungen und für temporäre Pavillons wie sie beispielsweise Haus-Rucker-Co konzipierten. Die österreichische Architekten- und Künstlergruppe machte in den 1960ern und 1970ern vor allem durch ihre aufblasbaren Installationen im öffentlichen Raum auf sich aufmerksam. Die Modelle gelten heute anderen als Vorbild – so lehnt zum Beispiel die Künstlergruppe raumlaborberlin mit ihrem „Küchenmonument“, einem transportablen pneumatischen Pavillon, an die alten Entwürfe an.

Den Höhepunkt des Pneu-Booms markierte 1970 die Expo in Osaka mit zahlreichen pneumatischen Bauten wie dem aufblasbaren Fuji Pavillon von Yutaka Murata. Heute werden Pneus meist nur noch für temporäre Pavillons im öffentlichen Raum und zunehmend als ETFE-Folienkissen für Fassaden- oder Dachelemente verwendet.

„Ich habe wenig gebaut. Ich habe aber viele ‚Luftschlösser‘ ersonnen. Warum die wenigen realen Gebäude, die ich selbst machte oder mitmachte, so bekannt wurden, ist mir selbst ein Rätsel, denn die Mehrzahl existierte nur eine kurze Zeit.“, sagte Frei Otto einst. Diese „Luftschlösser“, seine visionären Ideen, seine Entdeckungen und Forschungserfolge dienten unzähligen Architekten zur Inspiration und wirken bis in die heutige Zeit. Im Mai diesen Jahres wird der Architekt dafür posthum mit dem Pritzkerpreis geehrt.

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„Der Baustoff der Zukunft“:
Neue textile Baustoffe sollen in Zukunft klassische Materialien wie Stahl ersetzen.

„Architektonischer Stoffwechsel”:
Die Architektur hat die Eigenschaften von Textilien neu für sich entdeckt.

„Neues aus dem Textillabor“:
Ein Streifzug durch die Forschungslandschaft des textilen Bauens.

„Die neuste Masche“:
Smarte Textilien und leuchtende Stoffe auf der Techtextil 2015 in Frankfurt am Main.


Deutscher Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal 1967, Frei Otto mit Rolf Gutbrod.
Foto © Universität Stuttgart, ILEK
Mit Strumpfmodellen getestet: Die Überdachung der Hauptsportstätten im Olympiapark München, 1972, Behnisch & Partner, Frei Otto, Leonhardt und Andrä mit Jörg Schlaich.
Foto © Olympiapark München GmbH
An Seilen und Seilmasten aufgehängtes Membrandach aus PTFE-beschichtetem Glasfasergewebe: King Fahd Stadion in Riad, Saudi Arabien, 1985, Ian Fraser und Schlaich Bergermann und Partner. Foto © Schlaich Bergermann und Partner
Punktgestützte Membrankonstruktion aus PTFE-beschichtetem Glasfasergewebe, Amt für Abfallwirtschaft in München, 1999, Ackermann und Partner.
Foto © Klaus Kinold, mit freundlicher Genehmigung von Ackermann und Partner
Stahlstützen und -ringe bilden die Grundkonstruktion, über die sich eine silikonverstärkte Hülle aus Glasfasergewebe spannt: Zénith Konzerthalle in Straßburg, 2007, Massimiliano und Doriana Fuksas. Foto © Moreno Maggi_Zenith Strasbourg_FUKSAS
Quaba Moschee in Medina, Saudi Arabien, mit geöffnetem und sich schließendem „Toldo“. Foto © SL Rasch
Das bewegliche Dach des Rothenbaum-Stadions in Hamburg lässt sich über radiale angeordnete Stahlseile öffnen und schließen, 1997, Werner Sobek und Schweger+Partner. Foto © Werner Sobek, Stuttgart
Innenhof der Moschee des Propheten in Medina mit geöffneten Schirmen. 1992 wurden 12 wandelbare Schirme in den beiden großen Innenhöfen installiert. Foto © SL Rasch GmbH
250 wandelbare Schirme beschatten die Piazza um die Moschee des Propheten in Medina. Foto © SL Rasch
Erster luftgestützter Radom von Walter Bird für das Raumluftfahrtlabor der Cornell Universität in Buffalo, USA, 1948. Foto © Birdair, Inc.
Aufblasbare Membranstruktur des Fuji Pavillons für die Expo 1970 in Osaka, Japan, von Yutaka Murata. Foto © Taiyo Kogyo Corporation
Aufblasbare Membranstruktur aus der Vogelperspektive von Yutaka Murata. Foto © Taiyo Kogyo Corporation
Küchenmonument, 2006,von raumlabor – inspiriert von Haus Rucker, ant farm und Archigramm. Foto © Marco Canevacci, mit freundlicher Genehmigung von raumlabor
„Oase Nr. 7“, Documenta 5 in Kassel, 1972, Haus-Rucker-Co.
Foto © Brigitte Hellgoth, mit freundlicher Genehmigung von Ortner und Ortner