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Abril, Architektur | Architecture: Lacol

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Es tut sich was in Barcelona. Gleich zwei Bücher, die unabhängig voneinander und fast zeitgleich in Spanien und Deutschland veröffentlicht wurden, widmen sich der aktuellen Architektur in der katalanischen Hauptstadt, die mehr denn je die Gemeinschaft fokussiert.
von Florian Heilmeyer | 11.08.2023

Lange war die katalonische Hauptstadt in Sachen Architektur vorrangig für die ganz großen Anstrengungen bekannt. So ist die Architekturgeschichte Barcelonas über die letzten 100 Jahre gesehen eine Geschichte voller Architekturikonen, für die in der dicht bebauten Stadt immer noch irgendwo Platz geschaffen wurde – von Gaudìs Sagrada Familia über Mies‘ Barcelona-Pavillon, dem gewaltigen Stadtumbau für die Olympischen Spiele 1992, Richard Meiers MACBA-Museum (1999), Jean Nouvels Torre Agbar (2005) oder Herzog & de Meurons seltsamem blauen Dreieck, für das so dramatisch fehlgeschlagene "Forum der Kulturen" (2004).

Dabei wirkten diese großen Anstrengungen eben genau so: etwas zu angestrengt, um gute Architektur als Beitrag zu einer lebenswerten Stadt zu bieten. Die Wirtschafts- und Immobilienmarkt-Krise 2008 hat diesen Entwicklungen im Großformat ein Ende gesetzt. Nun besinnt sich die Stadt für die architektonische Weiterentwicklung endlich wieder auf das wirklich Wichtige. Die Stadtverwaltung selbst hat vor wenigen Jahren eine Kehrtwende eingeleitet, deren erste Früchte es nun zu besichtigen gibt. Es ist eine erstaunliche Geschichte, der sich gleich zwei voneinander völlig unabhängige Bücher auf jeweils eigene Weise widmen.

Urbane Architektur und Gemeinschaft seit 2010

Der Münchner Verlag "Detail", präsentiert seit Kurzem eine Buch-Serie, die sich der jüngsten Architekturproduktion in verschiedenen europäischen Städten widmet. Nach Kopenhagen und Berlin wird nun Barcelona vorgestellt – und das mit 30 Projekten durchaus ausführlich. Neue Ikonen sucht man darunter vergebens. Jedenfalls, solange man unter einer ikonischen Architektur noch immer so glitzernd verbogene Skulpturen wie Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao versteht. Schon die drei Kapitel des Buchs zeigen, dass in Barcelona jetzt eher Architekturen für die Gemeinschaft und für den Alltag gebaut werden.Die Kapitel heißen "Treffpunkte im Alltag", "Kultur und Bildung für alle" und "Zu Hause in der Stadt". Darin finden sich Sportkomplexe, Nachbarschaftshäuser, Gemeindezentren und Blumenmärkte, Schulen, Bibliotheken und Kindergärten sowie kleinformatige Wohnbauten für SeniorInnen, Geflüchtete, sozial Schwache oder genossenschaftliche Wohnmodelle. Würde man diese 30 Projekte zu einem großen Panorama fügen, dann entstünde das Bild einer lebendigen, lebenswerten Stadt voller kleinteiliger und bescheidener Gebäude, die sich nicht mehr an die Touristen, sondern vor allem an die Einheimischen wenden.

Spektakulär und aufregend ist das übrigens trotzdem. Aber eben oft erst auf den zweiten Blick. Die Sporthalle im Stadtteil Nou Barris (ein Entwurf von Anna Noguera und Javier Fernandez) ist zunächst ein schlichter, rechteckiger Kasten, über den die frisch gesetzten Kletterpflanzen bald ein dichtes Netz geworfen haben werden. Innen aber findet sich eine städtische Schwimmhalle, auf die eine Turnhalle gestapelt wurde. Das spart den in Barcelona knappen Boden und sorgt für ein reges Miteinander der Sportvereine aus der Nachbarschaft. Oder: Das wunderschöne, leicht geschwungene Gebäude, das Benedetta Tagliabue für eine Krebshilfe-Stiftung entworfen hat und in dessen Backstein-Fassaden große Blumenornamente eingesetzt sind, könnte beinahe als ikonisches Gebäude durchgehen – würde es sich nicht so wunderbar unauffällig in das Krankenhausgelände des historischen Hospital Sant Pau mit seinen Gebäuden im katalonischen Jugendstil einfügen.

La Chalmeta, Architektur | Architecture: Pau Vidal, Vivas Arquitectos
La Chalmeta, Architektur | Architecture: Pau Vidal, Vivas Arquitectos
La Borda, Architektur | Architecture: Lacol

Neue Architekturen für den zweiten Blick

Andere Veränderungen sind von außen kaum zu erkennen, wie das Nachbarschaftshaus im Stadtteil Montjuïc, das von Harquitectes hinter die Fassaden eines Altbaus von 1928 eingesetzt wurde. Eine blitzschöner Grundschulbau aus den 1950er-Jahren wurde mit wenigen Veränderungen zur Bibliothek (Oliveras Boix Arquitectes), die städtische Filmschule EMAV und eine weitere Bibliothek haben passgenau ein neues Zuhause in einer früheren Fabrik bekommen. Und auch die neue Zweigstelle des Stadtmuseums MUHBA, für die man vor 30 Jahren vielleicht noch eine spektakuläre Protz-Architektur errichtet hätte, ist in einem 100 Jahre alten Fabrikgebäude prächtig untergekommen Der Umbau wurde vom lokalen Büro BAAS Arquitectura betreut, die dem Altbau immerhin ein paar An- und Einbauten aus goldverzinktem Stahl hinzufügten, wie eine kostengünstige, robuste und augenzwinkernde Referenz an die verschwenderischen Ikonen der jüngsten Vergangenheit.

Das sich unter den 30 Projekten viele Umbauten finden, passt ins Bild einer ökonomisch und ökologisch klug ausgelegten Architektur mit einem zusätzlichen Blick auf den öffentlichen Raum und den sozialen Mehrwert für die Nachbarschaft. Das Bestehende wird nicht mehr abgerissen für das radikal Neue, sondern in seiner Struktur erhalten und für neue Zwecke verändert und weitergenutzt – ganz so, als ob die frische Architektur im noch ganz jungen 21. Jahrhundert endlich aufräumt mit all den radikalen Neuanfängen, die im 20. Jahrhundert in immer neuen Wellen proklamiert wurden. Stattdessen verbindet die zeitgenössische Architektur ihre Strategien fröhlich mit den vor-modernen Traditionen, bei denen selbstverständlich mit dem gebaut wurde, was lokal verfügbar oder bereits vorhanden war. Dazu gehören Umbauten und Neubauten gleichermaßen, letztere oft mit industriell vorgefertigten Modulen aus Holz oder Beton, dazu Backstein und Glas. Denn romantisch ist diese Verknüpfung mit der Vor-Moderne nicht, sondern pragmatisch, allerdings nicht spartanisch, sondern durchaus luxuriös, großzügig und fröhlich. Auch die Argumente der Nachhaltigkeit, die jedes Projekt in diesem Buch begleiten, versperren keineswegs den Weg zu einem dieser industriellen Materialien – es kommt vielmehr immer darauf an, woher sie stammen, wofür sie eingesetzt und wie sie kombiniert werden können.

Für ein derart ideologisch unbelastetes, frisches Bauen stehen auch die überraschenden Wohnbauten in diesem Buch. Vom Genossenschaftsbau La Borda (Entwurf: Architekturkollektiv Lacol) über den Holzbau für die Wohngenossenschaft La Balma (ebenfalls von Lacol) oder die 49 Sozialwohnungen für alleinstehende Senioren in Eixample (Arquitectura Produccions, Pau Vidal und Vivas Arquitectos) bis zu den Sozialwohnungen, die auf einem engen Grundstück im Gotischen Viertel aus zwölf ausrangierten Schiffscontainern geschaffen wurden (Strddle3, Eulia Arkitektura, Yaiza Terré) – ein Beispiel ist hier beeindruckender als das andere. Dass die ArchitektInnen sich dabei in Kollektiven oder in ständig wechselnden Arbeitsgemeinschaften organisieren ist nebenbei bemerkt ein auffallendes Thema, das aber in den Interviews und Essays nicht weiter aufgegriffen wird. Dass sich in diesen 30 Projekten eines neuen, endlich wieder jungen Barcelonas hingegen Lösungen und Ideen zeigen, die auf viele andere Städte Europas übertragbar sind, ist offensichtlich.

La Chalmeta, Architektur | Architecture: Pau Vidal, Vivas Arquitectos
La Morada, Architektur | Architecture: Lacol

Architektur für und von der Gemeinschaft

Wer sich insbesondere für diesen auffälligen Boom der Wohnungsgenossenschaften in Barcelona interessiert, dem sei zur Vertiefung ein zweites Buch dringend empfohlen, dass gerade im Barceloner Architektur-Verlag Actar erschienen ist. In "Cohousing in Barcelona" werden ebenso detail- wie diskussionsfreudig die Hintergründe offengelegt: Dass es in Barcelona 2015 einen wichtigen Politikwechsel gab, als die links-alternative Wahlvereinigung "Barcelona en Comú" mit der Spitzenkandidatin Ada Colau, einer sozialen Aktivistin, überraschend an die Macht kam. Bis 2023 blieb Colau Bürgermeisterin. Schon als Aktivistin hatte sie sich für einen stärkeren sozialen Wohnungsbau in Barcelona und für eine Stärkung des bürgerschaftlichen Genossenschaftsbaus eingesetzt.

So gab es 2014 bereits zwei erste Pilotprojekte, bei dem städtische Immobilien an Genossenschaften langfristig verpachtet wurden: Der Umbau eines heruntergekommenen Altbaus von 1896 in der Innenstadt wurde in die Hände einer eigens dafür gegründeten Genossenschaft gelegt, die bis 2018 darin in liebevoller Handarbeit fünf Wohnungen einrichtete. Das zweite Pilotprojekt war das bereits erwähnte La Borda, das mit 28 Wohnungen in einem Neubau deutlich größer angelegt war – und das 2022 sogar mit dem europäischen Mies van der Rohe Award ausgezeichnet wurde. Das Interesse an diesen neuen Häusern Barcelonas, die ästhetisch ebenso hohe Ansprüche stellen wie ökonomisch und sozial, ist also bereits europaweit vorhanden.

Im Buch kann man gut nachvollziehen, woher diese hohe Qualität stammt: Aus den innovativen Rahmenbedingungen der städtischen Verwaltung. Auf die zwei Pilotprojekte folgten inzwischen weitere Vergaben von städtischen Grundstücken an interessierte Genossenschaften, die sich jeweils ihre eigenen ArchitektInnen ins Boot holen. Für den Bau von Wohnungen für den Eigenbedarf überlasst die Stadt den Genossenschaften stadteigene Grundstücke oder Altbauten im Erbbaurecht zur Nutzung für 75 oder 99 Jahre. So rechnet sich die Erst-Investition für die Baugruppen durch die gesicherten Jahre einer kostengünstigen Nutzung. Aktuell leben bereits 150 Familien in solchen Wohnungen. Laut einer Absichtserklärung zwischen der Stadt und den sozialen Wohnungsbauträgern sollen in zehn Jahren 1000 neue Wohnungen geschaffen werden, 600 davon als Sozialbau- und 400 als Genossenschaftswohnungen. Mit dem gleichzeitig gestärkten sozialen Wohnungsbau sollen auch Nutzergruppen erreicht werden, für die auch die vergleichsweise kostengünstigen Genossenschaften noch unerschwinglich sind.

La Xarxaire, Architektur | Architecture: La Mar d'arquitectes
La Xarxaire, Architektur | Architecture: La Mar d'arquitectes
La Xarxaire, Architektur | Architecture: La Mar d'arquitectes

Ein ehrgeiziges Ziel, sicher. Aber warum sollte sich eine Stadt wie Barcelona nicht solche setzen? Im Buch werden die sechs bislang fertiggestellten Genossenschaftsprojekte ebenso detailreich vorgestellt wie die 12 derzeit in der Planung befindlichen– mit Fotos oder Renderings, mit Plänen und vor allem: mit Interviews mit den Beteiligten. Diese und die Essays sind die entscheidenden Stellen, wo Architektur endlich einmal nicht alleine als gefrorenes Objekt gezeigt wird, dessen Räume und Materialien es zu diskutieren gibt, sondern als stets veränderbare Form, die aus einem diskursiven Prozess mit vielen Beteiligten entsteht – und deren Ausgestaltung auch in Zukunft weitergehen wird.
So tauchen in den höchst unterschiedlichen Gesprächen mit den Genossenschaftsmitgliedern auch Themen wie die Gruppenorganisation, die mühsamen Diskussionsprozesse, die Fragen der Materialwahl, die große Bedeutung der Gemeinschaftsräume für das gewünschte Zusammenleben – zum Teil auch "jenseits der heteronormativen Kernfamilie" –, die Probleme bei der Finanzierung oder der rechtlichen Absicherung des gemeinsamen Projektes.

Es hat sicher eine Rolle gespielt, dass die vier Herausgeber*innen selbst in einem der Genossenschaftshäuser wohnen. Sie stellen als solche die richtigen Fragen – auch wenn das Buch an einigen Stellen vielleicht nicht wirklich den "kritischen Blick" auf sein Thema entwickelt, der im einleitenden Interview versprochen wird. Dafür sind die Beteiligten dann vielleicht doch zu nah dran. Und im einleitenden Interview erklären die vier HerausgeberInnen selbst, dass sie sich für die Interviewform entschieden haben, eben weil das gesamte Barceloner Modell selbst noch "im Bau" ist, sich ständig bewegt und verändert. Das Buch ist insofern keinerlei abschließende Bewertung, sondern die Begleitung eines noch immer formbaren Prozesses, auf den es nach den jüngsten politischen Veränderungen gut aufzupassen gilt.

So bleibt nach der Lektüre beider Bücher vor allem festzuhalten, dass sich die Stadt Barcelona zu einem Wandel aufgerafft hat, der Hoffnung macht, den Würgegriff aus Wirtschaftskrise und Massentourismus für die Einheimischen erträglicher zu machen – nicht mit einem großen Wurf, sondern Schritt für Schritt, Haus für Haus. An der neuesten, kleinteiligen, wunderbar vielfältigen Architektur wird dieser Wandel in all seinen Facetten sichtbar. Das sind absolut gute Nachrichten für und aus Barcelona.

Cohousing in Barcelona: Architecture from/for the Community
HerausgeberInnen: David Lorente, Tomoko Sakamoto, Ricardo Devesa, Marta Bugés
Softcover, 220 Seiten
getrennte englische oder katalanische Ausgabe,
Actar Books, Juni 2023
39 Euro

Barcelona. Urbane Architektur und Gemeinschaft seit 2010
Herausgeberinnen: Sandra Hofmeister, Heide Wessely
Softcover
Getrennte englische oder deutsche Ausgabe
Detail Publishers, Juni 2023
59,90 Euro