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Aus einer anderen Zeit

Oscar Niemeyers postum realisierter Pavillon in der Provence zeigt mit skulpturaler Kraft noch einmal exemplarisch das Können des brasilianischen Architekten.
von Falk Jaeger | 06.05.2022

Der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer ist ein Phänomen: Nicht nur, weil er als letzter Protagonist der frühen Modernen und Assistent Le Corbusiers deren Gedankengut und Formensprache ins 21. Jahrhundert hineintrug und erst 2012 im Alter von fast 105 Jahren starb. Sondern auch, weil er bis zuletzt als Architekt entwerfend tätig war. Und weil seine Entwürfe nach wie vor gefragt waren – zum Beispiel seine Version des renommierten, alljährlich neu beauftragten Serpentine Gallery Pavillons in London im Jahr 2003. So kommt es, dass er noch in der Spätphase seines Lebens gefeiert wurde und noch immer Werke von ihm postum fertiggestellt werden. Die "Niemeyer-Kugel" zum Beispiel, ein zweigeschossiges Restaurant, das er einem alten, backsteinernen Fabrikhallenbau an die Ecke klebte, wurde 2020 in Leipzig eröffnet. Ein weiteres Bauvorhaben in Deutschland, das Schwimmbadprojekt am Potsdamer Brauhausberg, scheiterte allerdings 2005 an den exorbitanten Kosten. Etwa 20 Projekte sollen weltweit noch in Arbeit sein, einige davon mit langen Bauunterbrechungen.

Jüngst vorgestellt wurde ein Pavillon auf dem Areal des Weinguts Château La Coste bei Aix-en-Provence, der dort eine Sammlung an Fingerübungen berühmter GestalterInnen wie Frank Gehry, Richard Rogers, Tadao Ando, Jean Nouvel, Jenny Holzer und Ai Weiwei ergänzt. Der Pavillon bietet dabei alles, was man von Oscar Niemeyer erwarten kann: weiße klassische Moderne, gebauter Dynamismus, eine signifikante skulpturale Kraft, die Inszenierung in und mit der Landschaft – gewissermaßen die Quintessenz seines architektonischen Schaffens im Kleinen. Das hat natürlich mit dem Auftraggeber Paddy McKillen zu tun und den Freiheiten, die Bautypus und Bauplatz boten. Letzteren hat Niemeyers Büroleiter Jair Valera bei einer Ortsbegehung 2010 ausgewählt. Niemeyer, der in den letzten Jahren keine Reisen mehr unternahm, lieferte fünf Entwürfe, von denen McKillen einen auswählte und realisieren ließ – was geraume Zeit dauerte, denn die Genehmigung zum Bau auf einer zu landwirtschaftlicher Nutzung gewidmeten Fläche musste erst erkämpft werden.

Wo Richard Rogers nebenan einen Galerieraum in einem knallroten Stahlfachwerkträger in mittlerweile etwas angejahrt wirkender High-Tech-Manier über den Hang kragen lässt, bettet Niemeyer seinen halb strahlend weißen, halb gläsern transparenten Bau an erhöhter Position in die sanft bewegte Weinbergidylle ein. Strahlend weiß ragt ein kreisrunder Baukörper in die Höhe: das 140 Quadratmeter große Auditorium mit 80 Plätzen. Umfangen wird es von einer im Grundriss tropfenförmigen Galerie, die, ringsum verglast, gleichzeitig tagheller Ausstellungsort, Foyer und Diorama des Panoramaausblicks ist. Niemeyer hat es sich nicht nehmen lassen, ein eigentlich in der karstig-trockenen Gegend fremdes Landschaftselement einzusetzen: Ein Wasserbecken umspielt das Gebäude und liefert die Spiegelungen, die er seinen Werken gerne angedeihen ließ. Wie immer ist Weiß außen wie innen die vorherrschende Farbe. Umso kraftvoller wirkt eine leuchtend rote Keramikwand, für deren Motiv ein örtlicher Künstler sich einer Zeichnung von Niemeyers Hand bedient hat. Sie zeigt ein Lieblingsmotiv des Architekten: zwei unbekleidete Frauen, deren Kurven ihn nach eigenen Aussagen zu vielen Bauwerken inspiriert haben, auch zu diesem.

Und wie immer bei Niemeyer spielen Licht und Schattenwurf eine tragende Rolle. Im Inneren entsteht durch die raumhohe, rahmenlose Verglasung und die fast unsichtbaren, dünnen Stahlstützen der Eindruck, als fließe der entgrenzte Raum aus und ein. Die idyllische Landschaft wird so zum Star der Inszenierung. Als Galerie, also zum Ausstellen von Kunstwerken, wird der durch einige Oberlichter zusätzlich erhellte Raum schwer zu nutzen sein, allenfalls für Plastiken. Abstriche muss man wohl auch bei der Bauausführung machen: So präzise, wie eine im vollem Sonnenlicht und Schatten stehende Rotunde oder gerundete Dachkanten verputzt sein müssten, ist mit Handwerkerarbeit kaum zu bekommen. Überdies: Die weiße Moderne eines Oscar Niemeyer verträgt keinerlei Patina, Schmutz oder Algen und will akribisch gepflegt sein. Man kann sich nur wünschen, dass der Bauherr den Aufwand im Betrieb eingeplant hat, damit Niemeyers ikonisches Spätwerk allzeit als wunderbares Artefakt vor Augen steht.