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Carlsen Verlagscampus DOCK 20

Das Ende des Klebezeitalters

Seit über 25 Jahren entwirft de Winder Architekten zukunftsfähige Arbeitswelten zwischen Rückzug und Begegnung, Flexibilität und Identität. Wir trafen Claudia und Klaus de Winder sowie ihren CSO Sascha Nikolauschke und sprachen über Wandel als Gestaltungsprinzip und Räume, die mitwachsen.
12.06.2025

Tanja Pabelick: Ihr habt euch unter anderem auf die Gestaltung von Arbeitswelten spezialisiert. Wie haben sich die Anforderungen ans Büro seit der Gründung verändert?

Claudia de Winder: Als wir vor 25 Jahren hier in Berlin angefangen haben, mussten wir bei Büroplanungen vor allem mit einfachen und günstigen Flächen umgehen. Das war Architektur mit einer zweckmäßigen inneren Struktur; in Gebäuden, die in den 1990er Jahren schnell hochgezogen worden waren. ArchitektInnen mussten hierbei hauptsächlich funktional denken. Um der Forderung nach Arbeitszellen für ein bis zwei Personen gerecht zu werden, wurde jede Menge Gipskarton verbaut. Dann kamen Anfang der 2000er die Start-ups. Die wollten große Räume mit angeschlossenen Spielwiesen, die entsprechend unübersichtlich und laut waren. Jetzt ist der Trend ein anderer. Die weiten Flächen mit vielen Möglichkeiten gibt es zwar noch. Durch räumliche Trennungen und organisierte Zonen wird nun aber auch Privatheit und Atmosphäre erzeugt. Rückzugsorte sind aktuell besonders wichtig – um den Mitarbeitenden zu zeigen: Du hast auch hier Ruhe und musst nicht im Homeoffice bleiben.

Woher kam dieser letzte Shift?

Claudia de Winder: Die Pandemie war ein großer Einschnitt, der viel in Bewegung gebracht hat. Zuvor bestimmten die Führungskräfte, wie das Büro von morgen auszusehen hat. In der Regel ging es dabei darum, Fläche zu komprimieren und Kosten einzusparen. Als nach der Pandemie die Leute nicht mehr in die Büros zurückkamen und gleichzeitig die Talente immer schwerer anzuwerben waren, ist man dazu übergegangen, die Mitarbeitenden zu fragen, was sie wollen.

Beratungsunternehmen, Berlin

Was zieht Menschen ins Büro?

Klaus de Winder: Die Arbeitsorte, die wir gestalten, sollen vor allem kommunikativ sein. Sie sind Antipoden zum Homeoffice, man kommt zum Austausch ins Büro und für persönliche Begegnungen. Trotzdem braucht man nicht nur Trubel, sondern auch Raum für konzentrierte, fokussierte Arbeit. Die Nutzenden bringen mittlerweile immer weniger territoriales Denken mit. Es ist immer weniger "mein Büro" oder "mein Schreibtisch", wo ich mein Bild aufstelle. Der Radius im Büro wird größer und die Arbeitnehmenden verstehen, dass ihr Arbeitsplatz aus vielen verschiedenen Arbeitsorten besteht. Nichtsdestotrotz gibt es immer noch einige, die immer den gleichen Schreibtisch ansteuern.

Wie schafft ihr es, bei all den unterschiedlichen Anforderungen die richtige gestalterische Sprache zu treffen?

Claudia de Winder: Am besten funktioniert eine Arbeitswelt, wenn sie von innen heraus entsteht – und nicht wenn sie von außen kommt. Wir versuchen in Gesprächen herauszufinden, wie ein Unternehmen tickt, wohin es sich entwickeln will und welches Verständnis von Arbeit vorherrscht. Wir sprechen mit den Mitarbeitenden, entwerfen ein individuelles Profil und schauen dann gemeinsam, wie wir es umsetzen können. Ein Projekt ist keine Einbahnstraße, denn auch wir lernen. Es ist ein Geben und Nehmen. Büros nach Rezept, wo im Grundriss alles von laut nach leise organisiert wird, gibt es bei uns nicht.

Wie geht ihr dann vor?

Sascha Nikolauschke: Mit jedem neuen Projekt machen wir uns erst einmal frei. Von möglichen Einschränkungen, dem Budget und teilweise auch unserer Erfahrung. So stellen wir sicher, dass wir nichts von vornherein ausschließen und unvoreingenommen den Geist destillieren. Jedes Unternehmen hat eine individuelle Bedürfnispyramide, die wir mithilfe gezielter Fragen analysieren. Oft sind wir dann mit einem Effizienzberg konfrontiert und müssen uns fragen: Wie kriegen wir jetzt "unseren Rucksack darüber getragen"? Ideen zu transportieren hat ganz viel mit Kommunikation und Strategie zu tun. An welchem Punkt werden welche Entscheidungen getroffen, wie setze ich das Projekt auf und welche Menschen stehen dahinter? Das ist auf ganz vielen Ebenen Arbeit. Das Büro eines Verlags sieht anders aus als das eines Energieversorgers oder einer Beratungsgesellschaft.

Hörbuch Hamburg Verlag

Euer jüngstes Projekt sind die Büroräume des Hörbuch Hamburg Verlag. Welche Voraussetzungen hattet ihr hier?

Sascha Nikolauschke: Hörbuch Hamburg ist in der Bonnier Verlagsgruppe als Schwesterunternehmen von Carlsen Teil des sogenannten Carlsen Campus, den wir 2021 umgesetzt haben. Der Carlsen Verlag hat alle seine Standorte in Hamburg in einem Gebäudeensemble zusammengezogen. Hörbuch Hamburg ist nun in den obersten drei Geschossen des Neubauteils vertreten und der Carlsen Verlag, mit seiner letzten Erweiterung im vergangenen Jahr, in den unteren beiden. Hörbuch Hamburg war es wichtig, Teil des Teams zu sein und dennoch eine eigenständige Fläche mit einer eigenen Designsprache und Identität zu bekommen.

Und die ist sehr farbenfroh geworden?

Sascha Nikolauschke: Hörbuch Hamburg kamen aus einer Bürofläche direkt am Bahnhof Altona, die wenig Dynamik hatte. Nach dem Umzug gab es den Wunsch, frischen Wind reinzubringen. Das Team ist jung, dynamisch und produziert eine breite Produktpalette an Hörbüchern und Hörspielen. Wir hatten schnell ein klares Thema, aber auch ein begrenztes Budget. Das Interieur arbeitet viel mit Farbe und Volumen, mit einer auf Silhouetten reduzierten Dreidimensionalität, die fast comichaft wirkt.

Die Fotoserie zu Hörbuch Hamburg ist ungewöhnlich belichtet und inszeniert. Warum habt ihr euch dafür entschieden?

Sascha Nikolauschke: Ein Fotoshooting gibt einem die besondere Möglichkeit, nach einem Jahr im Fokus und vielleicht auch Tunnel, noch einmal von außen auf das Projekt zu blicken. Man kann durch die Kamera Dinge entdecken, die man bisher vielleicht noch nicht gesehen hat. Der Fotograf Mark Seelen arbeitet schon lange mit uns und für Hörbuch Hamburg haben wir zusammen eine Idee entwickelt, wie das fertige Interieur inszeniert werden kann, um eine andere Erzählebene zu finden. Indem die Personen in weißen Anzügen in der Szene stehen, wirken sie fast wie ein Scherenschnitt.

Carlsen Verlagscampus DOCK 20

Ihr habt euch bei der Büroorganisation für Carlsen von der Organisation eines Dorfes inspirieren lassen. Was hat ein Büro mit einem Dorf gemein?

Klaus de Winder: Ich habe einen niederländischen Background – und dieser Aspekt ist von der niederländischen Baukultur inspiriert: Ein kleines Haus muss wie eine Stadt funktionieren und eine Stadt wie ein Haus, so sinngemäß nach Aldo van Eyck aus den Anfängen der 1960er Jahre. Es gibt Rückzugsräume und offene Bereiche, es gibt Bereiche, in die du Gäste führst und ganz private Räume. Dann war da die Atmosphäre des Ortes. Bei Carlsen gibt es beispielsweise Büroräume im Dachgeschoss und das Besondere ist, wie das Licht dort durch die Gauben einfällt. Dadurch entsteht eine ganz eigene, behagliche Atmosphäre.

Wie wichtig ist das Milieu? Beeinflussen Umgebung und Stadtgefüge das Interieur?

Klaus de Winder: Wir verstehen Architektur ganzheitlich. Wir reduzieren nie auf einzelne Elemente wie ein Interieurdesign oder eine Arbeitswelt. Deswegen steigen wir am liebsten schon bei der Auswahl und Konzeptionierung der Gebäude ein. Der Standort und sein Umfeld sind dabei ein immanent wichtiger Punkt. Was sehe ich, wenn ich aus dem Fenster schaue? Die äußeren Bezüge sind relevant, denn sie haben mit Identifikation zu tun. Man gibt den Mitarbeitenden auch eine Heimat – und deshalb ist es wichtig, den Ort überlegt zu suchen und gestalterisch zu verstärken.

Altbau oder Neubau?

Claudia de Winder: Das ist gar nicht eindeutig zu beantworten. Jedes Projekt – mit all seinen Bestandteilen, der Kombination aus individuellen Faktoren, Ausrichtung und Wertigkeit – ist eine eigene Herausforderung. Einfacher ist es natürlich, wenn die Räumlichkeiten schon ein Ort sind. Beim Altbau geht es darum, die Potenziale zu erkennen und weiterzuführen, beim Neubau darum, sie vorher zu denken. Wie kann man aus flächenmaximierten Räumen wirklich gute Räume machen? Bei unserem Büro für Vattenfall in Hamburg beispielsweise, welches wir mit dem Büro Behnisch aus Stuttgart konzeptionieren konnten, hatten wir ein im Prinzip standardmäßiges Gebäude. Über zweigeschossige Wintergärten, vertikale und horizontale Magistralen sowie Ausblicke auf Altstadt und Hafen haben wir Charakter, Konzept und Atmosphäre erzeugt.

Denkt ihr Flexibilität mit?

Klaus de Winder: Die Frage ist: Wie hoch oder niedrigschwellig muss Flexibilität sein und wird das Angebot überhaupt wahrgenommen? Wir selbst haben die Größe unseres eigenen Büros zuletzt verdoppelt und dabei viel gelernt. Wir haben Vorhänge zwischen den Arbeitsplätzen installiert – und die werden bis jetzt tatsächlich selten benutzt. Eine akustisch abgeschirmte Box hingegen war ständig besetzt. Die Mitarbeitenden waren eher bereit, ihren Laptop mitzunehmen und sich räumlich zu verändern, als ihre tatsächliche Arbeitssituation zu verändern. Auch mit höhenverstellbaren Tischen oder verschiebbaren Wänden machen wir diese Erfahrung. Flexibilität heißt nicht immer, dass alles auf Rollen ist, sondern kann sich auch in einem größeren und breiter gestreuten Raumangebot zeigen. Ein wichtiges Thema für uns ist das Unfertige, womit gemeint ist, dass wir Teile des Raumes so denken, dass sie einer nachträglichen Veränderung standhalten. Es ist eben nicht nachhaltig, alle zehn Jahre alles rauszureißen und neu zu machen. Der Arbeitsplatz muss in der Lage sein, bei einem Wandel mitzugehen.

Geschäftsführung de Winder Architekten: Sascha Nikolauschke, Claudia de Winder, Klaus de Winder

Was bedeutet das für die Architektur?

Claudia de Winder: Ein großes Thema ist: Wie muss ein Gebäude heute geplant werden, um zukunftsfähig zu sein? Wie muss es strukturiert sein? Welche Möglichkeiten muss es bieten? Wie gestalten wir die Haustechnik? Flexibilität ist dabei ein ganz wichtiges Thema, etwa indem sich Räume auch wieder neu aufteilen lassen. Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass in einem Gebäude dauerhaft gearbeitet wird. Außerdem müssen ArchitektInnen lernen, zirkulär zu denken. Wir gestalten Räume nicht nur, indem wir Möbel aufstellen, sondern wir entscheiden auch über die Materialien und ihre Verarbeitung. Das Klebezeitalter ist vorbei. Wir müssen Elemente so gestalten, dass sie sich schichtweise demontieren lassen. Da sind wir ArchitektInnen gerade sehr gefragt – und müssen unseren Berufsstand vielleicht infrage stellen und uns von klassischen Standpunkten verabschieden.

Begleitet ihr eure Projekt nach der Fertigstellung?

Klaus de Winder: Wir schauen immer, wie sich ein Büro entwickelt, wie es in drei oder zehn Jahren genutzt wird. Manchmal kommt man rein und alles sieht noch genau so aus wie bei der Übergabe. Da denkt man sich: Ach schön, ihr scheint euch wohl zu fühlen. Bei anderen Projekten wurden überall Pflanzen aufgestellt, ohne Rücksicht auf das räumliche Konzept. Und dann hört man Klagen und denkt sich: Ihr hättet auch nach Unterstützung beim Justieren fragen können. Projekte zu evaluieren, ist wahnsinnig wichtig – und wird noch viel zu selten gemacht. Denn hier können ArchitektInnen, NutzerInnen und Auftraggebende sehr viel lernen. Wir als ArchitektInnen können beispielsweise an den Stellen, an denen es unterschiedliche Wünsche und Ideen gibt, dafür aber Erfahrungswerte, gesteuert dynamisch planen. Wenn in der Realität die gewählte Lösung nicht funktioniert, kann man durch Wegnehmen und Ergänzen vielleicht schnell ein besser funktionierendes Büro herstellen.

Das Nachjustieren ist ein Teil der Planung?

Sascha Nikolauschke: Tatsächlich ist es eher eine Seltenheit. Wir haben das große Glück, dass wir durch unsere Reputation häufig Gehör finden und einen großen Vertrauensvorschuss haben. Und wir sind beharrlich, wir treten durchaus ein für das, was wir für richtig halten und gehen nicht den einfachsten Weg. ArchitektInnen behaupten gern, alle Antworten parat zu haben. Daran glaube ich nicht. Aber wir haben das Zeug, die Antworten zu finden.