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ICE L Steuerwagen/ Rendering

MOBILITÄT
Neue Züge braucht das Land

Wie kann die Gestaltung eines Interieurs aktuell sein, wenn neue Züge mindestens 30 Jahre lang unterwegs sind? Das Design der DB soll mehr Gäste aufs Gleis locken. Dafür entstand eine Strategie, die sich nun durchzusetzen beginnt.
von Thomas Edelmann | 11.11.2022

"So viele ICE-Züge, wie noch nie zuvor" sollen ab dem 11. Dezember 2022 neu auf die Gleise kommen, heißt es bei der Deutschen Bahn. Beginnend mit dem Fahrplanwechsel kommen übers ganze Jahr 2023 Monat für Monat weitere Züge des neuen Typs ICE 3neo hinzu. Insgesamt 73 Exemplare sind fest bestellt. Außerdem werden weitere siebenteilige ICE 4 sowie deren extralange XXL-Version neu eingesetzt. In den kommenden Jahren wird die Bahn circa 10 Milliarden Euro in Fahrzeuge für den Fernverkehr investieren. Eine aerodynamisch geformte Röhre, lichtgrau lackiert, mit schwarzem Fensterband und schmalem Streifen: Wie ein ICE aussieht, weiß jedes Kind. Doch wie entwickelt sich sein Interieur weiter? Wie wird es veränderten Anforderungen gerecht?

Die Beschaffung einer "sehr beträchtlichen Anzahl neuer Fahrzeuge" sei ein guter Anlass, so Bruno Scheffler, Leiter des Team Markendesign bei der Deutschen Bahn, um die Gestaltung umfassend zu verändern. ExpertInnen der DB aus den Teams für Kundenerlebnis und Produktmanagement sowie Design holten die Schweizer Agentur Nose Design Experience hinzu, die nun als Leadagentur für Gestaltungsfragen für die DB tätig ist. Es gehe dabei um eine konsistente Strategie, nicht um geschmackliche Entscheidungen, betont Scheffler. Verbesserte Verbindungen zwischen Dortmund, Köln und München werden durch Ergänzung des Fahrzeugparks bereits als Erstes möglich. Auch der Frankfurter Flughafen lässt sich stärker als bislang ins Bahnnetz einbinden. Die Ausweitung des Angebots ist Teil der Strategie "Starke Schiene" der DB. Durch eine Reihe abgestimmter Maßnahmen soll sich die Zahl der Reisenden im Fernverkehr auf 260 Millionen verdoppeln. Ein sogenannter "Deutschlandtakt", ein verlässlicher integrierter Taktfahrplan, soll die Bahn zum Vorbild in Sachen Pünktlichkeit machen, wie es etwa der SBB in der Schweiz längst gelingt. Zu den Voraussetzungen gehören die Erneuerung und der Ausbau der Schieneninfrastruktur sowie der Bahnhöfe und eine durchgehend digitale Steuerung, um die Zugfrequenz im Netz zu erhöhen.

Ein Ziel für morgen und übermorgen

Das neue, im Mai vorgestellte Design, ein Konzept wie sich der Bahn-Konzern die Innenausstattung der schnellen Fernreise künftig vorstellt, wird erst nach und nach in Erscheinung treten. Anfangs sind es eher technisch-organisatorische Neuerungen, die im Fokus stehen. Dazu gehören Fensterscheiben im ICE 3neo, die für Mobilfunk besseren Empfang ermöglichen sollen oder ein neu positioniertes Gepäckregal. Erst nach und nach werden Elemente dieser Zielvorstellung umgesetzt, werden sichtbar und spürbar. Es ist das Dilemma jedes Gestaltungskonzeptes auf der Schiene: Züge sind Investitionsgüter. Neuerungen brauchen Zeit, um eingebaut und wahrgenommen zu werden. Von den ersten Konzepten für einen neuen Zug bis zur technischen und gestalterischen Ausformung, der Ausschreibung, um einen geeigneten Hersteller zu finden, dem Probebetrieb und der Zulassung vergehen viele Jahre. Eine Zeit, in der sich die Anforderungen der Reisenden weiter verändern und mit ihnen auch die Strategien der Bahn.

Sich "bei 300 Stundenkilometern wie im eigenen Wohnzimmer zu fühlen", darauf zielt das neue Design der Bahn ab. Deutlich wird dies bei der Abkehr von der bisherigen Materialität. Bislang gab es in der 2. Klasse Sitze, die mit blauem Velours bezogen sind und in der ersten Klasse blaugraue Ledersitze. Nun gibt es in beiden Klassen Textilbezüge aus einem eigens mit dem Schweizer Hersteller Lantal entwickelten Flachgewebe mit 85 Prozent Wollanteil. Lantal ist Spezialist für technische Textilien in der Transportindustrie und gewohnt, gegensätzliche Anforderungen wie Langlebigkeit, geringen Abrieb, Lichtechtheit und ästhetische Wirkung miteinander zu vereinen. Künftig sind es neben den großzügigeren Platzverhältnissen die Farbwelten sowie verfeinerte Details, die den Klassenunterschied markieren. Die Farbtöne "Azur" und "Kronenblau" verschwinden. Blaue Farbtöne gibt es künftig nur noch als Akzent, um eine Brücke zu schlagen – zum Erbe der DB-Marke ICE und den damit überwiegend ausgestatteten Zügen, einschließlich neuester, erst kürzlich ausgelieferter Modelle.

TriebfahrzeugführerInnen, ZugbegleiterInnen und BordgastronomInnen in neuer Unternehmensbekleidung

Eine Ästhetik, die als nachhaltig gilt

Der Einsatz von Leder wird deutlich reduziert. So gibt es bislang für Oberflächen der Armlehnen oder Sitze im Bordrestaurant kein Material, das sich als Ersatz anbieten würde. Im Restaurant werden die Sitze künftig nicht mehr in leuchtenden "Verkehrsrot" bezogen sein, sondern im ruhigeren "Burgundy", einem dunklen Farbton, den die DB bereits als Servicefarbe bei ihrer Unternehmensbekleidung etabliert hat, die wiederum von Guido Maria Kretschmer entworfen wurde. Ausschlaggebend für den Modemacher war, dass sich die Farbe besser mit anderen kombinieren und flächig einsetzen lässt, als die bisherige rote Warnfarbe. Seit November können die MitarbeiterInnen der Deutschen Bahn zudem unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht aus den Kollektionen ihre Dienstkleidung wählen. "ZugbegleiterInnen, KundenbetreuerInnen, LokführerInnen oder Servicekräfte können damit sowohl Artikel aus der Männer- als auch aus der Frauenkollektion bestellen und im Dienst tragen", so Dr. Richard Lutz, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG.

Bei den HPL-Materialien in Holzoptik, die im Innenausbau eine große Rolle spielen, wechselte die DB zuletzt mit dem ICE 4 von rötlicher Buche zu heller Buche. Künftig gibt helle Eiche den Ton an, zum Teil versehen mit einer holzähnlichen Struktur. Den Gästen im Zug (vom Begriff "Fahrgast" hat sich die DB weitgehend verabschiedet) räumt die Bahn künftig mehr Privatsphäre ein. Der Raum um den eigenen Sitz herum wird funktional aufgewertet und ergänzt. Bei Reihenbestuhlung wandelt sich der Rücken des Sitzes vor dem eigenen Platz zum Teil dieser persönlichen Sphäre. Mit dem ICE 3neo kommen Tablet-Halter neu ins Spiel. In späteren Zugmodellen soll sich die Rückseite eines Sitzes zum Klappsekretär für die Reisenden wandeln. In der 1. Klasse gibt es für die Tablet-Halterung zusätzliche Klappelemente in Holzoptik sowie eine Hintergrundbeleuchtung. Ein versenkbarer Kleiderhaken und Flächen für induktives Laden von Smartphones sind ebenfalls vorgesehen. Fragt man Bruno Scheffler danach, wie nah das im Mai als 1:1-Mockup präsentierte neue Design der Bahnzukunft tatsächlich kommt, wie ernst man die gezeigten Details nehmen kann, dann spricht er von einem "sehr konkreten Leitbild". Einige der Neuerungen, wie die Filzverkleidungen an Decken und Wänden, bedürften noch der Entwicklung und Ausarbeitung. Jede Innovation macht Eingriffe ins längst beschlossene Beschaffungsprogramm nötig. Da jede Veränderung Mehrkosten bedeutet und das Risiko weiterer Verzögerungen birgt, kann nicht alles, was der aktuellen Designstrategie entspricht, sofort umgesetzt werden. Erst recht in einer Zeit, da Lieferketten durch viele Einflüsse gestört sind, von chinesischen Corona-Lockdowns bis zum russischen Überfall auf die Ukraine.

Neues kommt langsam zum Zug

Beim ICE 3neo wird 2023 der 17. der neu ausgelieferten Züge einige wesentliche Merkmale des neuen Innenraumdesigns der DB-Flotte tragen, beispielsweise die neuen Flachgewebe von Lantal. Ein weiteres Beispiel für Designprozesse bei der Bahn ist der heute ICE L genannte Zug. Kürzlich wurde in Berlin ein erster Wagen vorgestellt. L steht für "Low Floor", also einen ebenen Zugang auf Bahnsteighöhe. Mitte der 2010er Jahre startete die Ausschreibung der DB für „Zugverbände“ – gesucht war ein Zug, der anders als alle bisherigen ICEs von einer Lokomotive gezogen werden sollte. Zudem solle er auch ins europäische Ausland fahren können. Anfangs gab es dafür die Bezeichnung ECx. Vorgesehen ist der Reisezug als vorwiegend touristische Verbindung, eingesetzt beispielsweise zwischen Berlin und Amsterdam oder zwischen Köln und Westerland. Üblicherweise enthält die Ausschreibung lediglich textliche Beschreibungen des Geforderten. In diesem Fall fügte die DB zusätzlich eine Designausschreibung mit Renderings bei, erarbeitet von der Münchner Firma N+P Innovation Design. Ziel war es, vergleichbare Angebote zu bekommen, nicht nur geringfügig modifizierte Beispiele aus dem Baukasten des jeweiligen Herstellers.

Ausschlaggebend für eine Ausschreibung ist, ob die erwarteten Leistungen erfüllt werden und wie hoch die Kosten des Fahrzeugs sein werden. Für den Zuschlag ist Design nicht entscheidend, doch manche BieterInnen nahmen das ergänzende Designbooklet ernst, was ihnen Pluspunkte in der Bewertungsmatrix einbrachte. Zu ihnen gehörte die spanische Firma Talgo, die den Zuschlag erhielt. Das Unternehmen hat ein besonderes Bauprinzip: Es stellt Gliederzüge her, die besonders leicht sind. Statt üblicher Drehgestelle mit jeweils zwei Achsen an beiden Enden eines Wagens kommen die Talgo-Züge mit einem Einzelrad-Fahrwerk zwischen den kurzen sowie breiten Wagen aus. Das senkt nicht nur das Gesamtgewicht und den Energiebedarf. Dadurch kann der Boden des Zuges auch niedriger sein. Kritisiert wird, dass es im 17-teiligen Zug nur drei Plätze für Rollstuhlfahrer geben wird. Nur eine der elf Toiletten des ICE L wird geräumig genug und barrierefrei sein, was allerdings kaum etwas mit Design, dafür umso mehr mit den Ausstattungsvorgaben der DB zu tun hat. Nachdem die Spanier mit dem Bau von 23 Zügen beauftragt wurden, entwickelten sie mit der deutschen Agentur Tricon ein Interieur, das die Wünsche des Designbriefings aufgriff. Inzwischen allerdings war die DB dabei, ihre Designstrategie für den Fernverkehr weiterzuentwickeln. Der Auftrag enthält eigens konstruierte Mehrsystem-Lokomotiven, die ohne zeitraubendes Umkuppeln auch ins Ausland fahren können. Probleme bei den Lieferketten führten zu Produktionsverzögerungen.

So wird der ICE L nicht wie ursprünglich vorgesehen ab 2023 ausgeliefert, sondern erst im Jahr darauf. Inzwischen haben die DB und ihre Leadagentur Nose die Gestaltung überarbeitet – im Exterieur wie im Interieur. Der Begriff langlebiges Design bekommt vor diesem Hintergrund eine neue Bedeutung: Während des Entwurfsprozesses musste es sich mehrfach wandeln, um dann, einmal aufs Gleis gebracht, möglichst für Jahrzehnte Bestand zu haben. Ab 2030 soll eine nächste Generation von Hochgeschwindigkeitszügen die heutigen ICE 3-Züge ablösen, die dann rund 30 Jahre unterwegs sein werden. Auch ihr Einstieg soll niedrig sein, wie beim ICE L. Bis dahin wird sich das "neue" Design der DB durchgesetzt haben. Bruno Scheffler und die Agentur Nose arbeiten bereits an Konzepten, wie sich Gestaltung im Hochgeschwindigkeitszug der 2030er Jahre konkretisieren wird.

Richard Lutz, Vorstandsvorsitzender DB AG, zum neuen Innendesign ICE