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Meister des Biedermeier: Carl Spitzweg (1808 – 1885), "Der Maler im Garten", um 1860, Ölfarben auf Karton

Essay
Das neue Biedermeier

Corona-Cocooning im Live-Stream. Fernreisen, Wohnkultur und verordnete Innerlichkeit. Eine Reise durch deutsche Einrichtungsbefindlichkeiten.
von Oliver Herwig | 13.01.2021

Jede Krise kennt ihre Gewinner. Corona ist da nicht anders, die Pandemie wurde zum Mekka der Streaminganbieter, Onlineversandhändler und Baumärkte. Viel von dem, was in den letzten Jahren in Fernreisen geflossen war, in spontane Städtetrips oder Kurzurlaube mit dem Weekender über der Schulter, steckten Bürger nun in die eigenen vier Wände. Sie tapezierten und strichen, rissen verblichene Böden heraus und verlegten Parkett oder ersetzten alte Fliesen durch Terrakotta. Kurz vor dem ersten Shutdown im Frühjahr 2020 waren nicht nur Drogerieregale leergefegt, auch Bau- und Gartenmärkte meldeten Rekordumsätze. In den ersten neun Monaten des Jahres waren es 15 Prozent Plus gegenüber 2019 – und es ging noch weiter. Allein Hornbach legte von September bis Ende November gut 20 Prozent zu. Corona hatte die Republik zu einer Do-ist-Yourself-Nation gemacht.

Premiumanlagen in Polster

Und die Möbelindustrie? Mailand wurde abgesagt, weitere Messen verschoben, den Ikea-Katalog gibt es nur noch online. Das waren die Meganews des Jahres. Auch wenn es zwischendurch gar nicht so gut aussah, mit Prognosen von Umsatzeinbrüchen von zehn Prozent oder mehr, fing sich die Branche Mitte des Jahres. "Insbesondere die Möbelnachfrage im Inland zeigt sich robust", erklärte Jan Kurth, Geschäftsführer des Verbandes der Deutschen Möbelindustrie und der Möbelfachverbände Ende August. Damalige Einschätzung: minus fünf Prozent. Doch auch hier zeigen sich große Unterschiede. Eine nicht repräsentative Umfrage unter einigen Premiummarken kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. 2020 wurde zum Boomjahr der gehobenen Ausstattung, das alle Trends der letzten Jahre noch verstärkte. Angesichts von Corona hieß es: Sofa statt Sofia und Couch statt Capri. Besonders langlebige Investitionen in die heimische Gemütlichkeit waren gefragt. Wohnungen wurden aufgemöbelt wie selten zuvor.

Schuld daran war wohl nicht nur Corona. Die verordnete Innerlichkeit – eine Art Corona-Biedermeier – verführte zu manchen Käufen vor allem im oberen Segment. Laut einer vom Verband der Deutschen Möbelindustrie in Auftrag gegebenen Studie hatten die Deutschen 2019 im Schnitt 725 Euro für neue Möbel ausgegeben und die Hälfte davon in Küchen investiert. Wer heute mit ambitionierten Schreinereien spricht, besser: sprechen will, kann sich auf monatelange Wartezeiten einstellen. Was sich in den letzten Jahren angedeutet hatte, seien es edle Hölzer jenseits von Eiche, aufwändige Spezialeinbauten und ein Hang zu perfekter Haus-Technik, wurde nochmals getoppt. WLAN und Convenience bestimmen Heimkino, Lichtsteuerung und HiFi-Bausteine. Küchen sind das Prestigeobjekt schlechthin – und drohen inzwischen sogar dem Automobil den Rang abzulaufen. Auch Polsterer winken inzwischen ab: Einen Sessel neu beziehen? Kommen Sie im Herbst wieder, hieß es im Frühjahr 2020. Nein, besser erst 2021. Heuer seien sie schon ausgebucht. Die neue Innerlichkeit fand ihren Weg auch zu Designer*innen, Innenarchitekt*innen und Gestalter*innen. Während Messeneuheiten den Zwangsschließungen weitgehend zum Opfer fielen, konzentrierten sie sich auf individuellen Anfertigungen und Editionen. Der Trend zum Luxus – auch in der Krise ungebrochen.

Einrichtungs-Furor und Corona-Cocooning

Was aber steckt hinter dem Einrichtungsfuror an Psychologie? Man könne mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt, meinte der Künstler Heinrich Zille – und er hatte keineswegs den schlechten Geschmack seiner Zeitgenossen im Auge, sondern soziale Nöte im dritten Hinterhof Berliner Mietskasernen. Auch heute ist das Soziale der Wohnungsfrage wieder aktuell geworden. Und die verordnete Innerlichkeit des Coronajahres regt an, Parallelen zur Kultur des Biedermeier 200 Jahre zuvor zu entdecken. Auch damals schrumpfte die Welt dramatisch. Dampfkraft bot die Beschleunigung des ganzen Lebens wie heute die digitale Werkbank oder der Algorithmus, der bereits ziemlich gute Gebrauchstexte produziert. Die erste industrielle Revolution schuf das Proletariat und beförderte einen romantischen Blick auf die Verlierer dieses Umbruchs: verwinkelte Fachwerkstädte und unberührte Natur. Nie wurde der Rhein so besungen wie zu einer Zeit, als er zum Industriekanal zu verkommen drohte.

In Sachen Umwelt aber stehen wir heute mit dem Rücken zur Wand: Freiwillige Beschränkungen und der Glaube an die Wandlungsfähigkeit des Marktes werden nicht viel bringen, wollen wir Klimaneutralität 2030 wirklich erreichen. Statt aber den Blick auf die Herausforderungen zu richten, wandert der seit Jahren nach innen. Cocooning war schon vor Corona da, es hat sich 2020 nur verstärkt – zwangsweise. Im 19. Jahrhundert war der Rückzug des Bürgertums in die eigenen vier Wände die Geschichte seiner politischen Entmachtung, nach vergeblicher französischer Revolution, aristokratischer Restauration und geographischer Zersplitterung in Klein- und Kleinstgebiete. So verlockend es ist, hier sofort Bezüge zur Gegenwart herzustellen, Stichwort: Föderalismusreform, Infektionsschutzgesetz und Ausgangssperren im Lockdown, so schnell wird deutlich, dass hinter der gefühlten Ohnmacht völlig verschiedene Gesellschaften liegen: Dort das autokratisch verfasste Deutsche Reich des 19. Jahrhunderts, hier die freie Gesellschaft des 21. Jahrhunderts mit vielfältigen Mitwirkungsmöglichkeiten auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen.

Es stimmt: Fernreisen waren 2020 nicht der Renner, dafür das eigene Heim – für die einen zwangsweise, für die anderen als Ausgleich für eine bedrückende Lage. Das Gefühl, hier mit dem Akkuschrauber in der Hand etwas zu bewirken, bot psychologische Auswege. Wohnung und das Haus waren unverhoffte Krisengewinner eines verrückten Jahres und boten viel Potential für Gestalter*innen. Der nächste Schritt scheint vorgezeichnet. Der Garten lockt 2021, das eigene Grün. Viel Arbeit steht da an für Landschaftsarchitekt*innen und Gärtner*innen.