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Adalbert Stifter in Darmstadt: Auch das im Zweiten Weltkrieg zerstörte "Haus in Rosen", das Joseph Maria Olbrich für und mit dem Maler Hans Christiansen auf der Mathildenhöhe baute, war vom Roman "Der Nachsommer" inspiriert. Gemälde von Christiansen, ca. 1901.

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Eine Moderne mit Lehnstuhl

Was die Literaturkritik langweilte, lieben und preisen Architekten bis heute: Uwe Bresan erhellt die spannende Rezeptionsgeschichte von Adalbert Stifters biedermeierlichem "Nachsommer" und dem darin beschriebenen Rosenhaus.
von Thomas Wagner | 03.08.2017

Mit historischen Veränderungen verhält es sich oft wie mit Infekten. Der gesellschaftliche Organismus wird von diversen Keimen attackiert, die vom Immunsystem der Gewohnheit aber zumeist abgewehrt werden. Ist der Gesellschaftskörper geschwächt, setzen sich einige durch. Wobei die Inkubationszeiten recht lang sein und die Attacken zyklisch wiederkehren können. Heute sind es rumorende Sehnsüchte, die unsere Tage anfällig für multiple Keime machen – auch für solche aus etwas rührselig-bürgerlichen Zeiten. Henry David Thoreaus Bericht "Walden oder Leben in den Wäldern" etwa befeuert nach wie vor jede naturselige und konsumkritische Haltung. Während der durchgehend ökonomisierte urbane Lifestyle zum einzig gültigen Lebensmodell und zum Maßstab des Bauens erklärt wird, lässt sich im historischen Fundus die eine oder andere vielversprechende Alternative aufstöbern. Hier reihen sich ein Roman und das darin ausführlich beschriebene fiktive Haus ein: Stifters "Der Nachsommer" und das in dessen Zentrum stehende Rosenhaus. 

Es überrascht und klingt in der Tat verwegen, den Ursprung der modernen Architektur – oder zumindest eines bestimmten Stranges – ausgerechnet in einer handlungsarmen Erzählung des Biedermeier-Dichters Adalbert Stifter (1805 bis 1868) zu verorten. Genau das aber versucht Uwe Bresan in seinem Buch "Stifters Rosenhaus. Eine literarische Fiktion schreibt Architekturgeschichte". Stifters Roman von 1857 sei, so Bresan, ein Epos ohne Kampf, ein Drama ohne Konflikt, eine Erzählung ohne jeden Höhepunkt. In nie dagewesener Langatmigkeit schildere Stifter den Lebensweg des jungen Wanderers Heinrich Drendorf, der eines Tages von einem aufziehenden (und dann doch ausbleibenden) Gewitter überrascht wird und deshalb Ausschau nach einer Unterkunft hält: "Auch war ein Haus auf einem Hügel, das weder Bauernhaus noch irgend ein Wirtschaftsgebäude eines Bürgers zu sein schien, sondern eher dem Landhause eines Städters glich. ... Da ich näher vor dasselbe trat, hatte ich einen bewunderungswürdigen Anblick. Das Haus war über und über mit Rosen bedeckt." 

Nicht die langatmige Erzählung als solche, sondern das ausführlich beschriebene Rosenhaus als Architekturmodell und dessen Einrichtung rückt Bresan in den Mittelpunkt. Jenes Rosenhaus, in dem der einsame Wanderer mehrere Tage in der Gesellschaft des Hausherrn, eines Freiherrn von Riesach (der bezeichnenderweise seinen Reichtum dem Geschäft mit Kriegsanleihen verdankt), und seiner Familie verbringt und das er, von den Besitzern eingeladen, auch danach regelmäßig besucht, um am Ende die Tochter seines Gastgebers zu heiraten, womit ihm ein Leben in "Einfachheit, Halt und Bedeutung" auf ewig gesichert erscheint. 

Zeichnerische Rekonstruktion des Rosenhauses von Theodor Fischer.

In der Literaturkritik wie bei den Lesern hat der "Nachsommer" nur wenige Freunde gefunden. Er wurde als das "langweiligste Buch der Weltliteratur" gescholten und immer wieder heftig kritisiert. Bresan hingegen sieht im "Nachsommer" ein "Lehrbuch des schönen Lebens", so etwas wie einen Styleguide: "Wer sich darüber unterrichten will, wie man seine Privatwohnung, seine Bibliotheken, seine Gärten, seine Werkstätten usw. ebenso geschmackvoll als zweckmäßig ausstatten kann, findet in diesem Roman die reichhaltigsten Notizen." Was 1858 als beißender Verriss gedacht war, wird für Bresan zu einer weitsichtigen Erklärung für den zyklisch wiederkehrenden Erfolg von Stifters "Nachsommer" bei Architekten. Ausfühlich verfolgt er die Wirkung des Rosenhauses als einer Art "Urhütte" im Garten Eden, hält in der Gegend um Kremsmünster bei Vierkanthöfen, Bauern- und Herrenhäusern – bis hin zum Humboldt-Schlösschen in Tegel – Ausschau nach möglichen Vorbildern und zeichnet die verschlungenen Wege seiner Rezeptionsgeschichte bis in die unmittelbare Gegenwart zu Rudolf Schwarz, Heinz Bienefeld und Hans Kollhoff nach. 

Was etwaige Vorbilder für Stifters Gedankengebäude angeht, so glaubt Bresan, Stifter habe sich, vermittelt durch Eckermanns "Gespräche mit Goethe", an den Weimarer Goethe-Häusern – dem Dichter-Haus am Frauenplan und seinem Gartenhaus vor der Stadt – orientiert. Dass in literarische Beschreibungen generell vielfältige Eindrücke Eingang finden und sich der Modellcharakter des Rosenhauses mehr als nur äußerlichen Merkmalen verdankt, gerät dabei etwas in den Hintergrund. 

Ob auf Nikolaus Pevsner oder William Morris, auf Paul Schultze-Naumburg oder Joseph Maria Olbrich, auf den weniger bekannten Joseph August Lux oder auf Paul Schmitthenner geblickt wird, Bresan bietet eine Fülle an Material zur Stifter-Rezeption durch Architekten. Akribisch präpariert er jene Bindegewebsschicht aus dem Körper der Moderne heraus, die für eine bestimmte Synthese aus Fortschritt und Tradition steht, ohne sie allerdings in einen größeren Kontext zu diskutieren. 

Das sogenannte "Laimer Schlössl", Theodor Fischers Wohnhaus in München, zeigt deutliche Anklänge an das Rosenhaus.

Im Zuge der Lebensreform waren es beispielsweise die Gründungsarchitekten des Heimatschutzbundes, der deutschen Gartenstadtbewegung und des Werkbundes, die sich mit den zunehmend als bedrohlich empfundenen Folgen des industriellen Fortschritts auseinandersetzten. Je deutlicher der Bruch mit den Traditionen hervortrat, umso verheißungsvoller wirkte Stifters scheinbar wohlgeordnete Alltäglichkeit fernab von Stadt und Fabrik. So wurde Stifters Rosenhaus als künstlerischer Höhepunkt einer letzten, von einem einheitlichen Stilwillen getragenen Bauepoche gepriesen. Dem Schlachtruf "Das Biedermeier als Erzieher!" gefolgt seien u.a. Architekten wie Peter Behrens, Josef Hoffmann, Adolf Loos, Bruno Paul oder Heinrich Tessenow. 

Der Münchner Architekt Theodor Fischer beispielsweise, der als "Lehrer der Avantgarde" in die moderne Architekturgeschichte eingegangen ist und zu dessen Schülern unter anderem Bruno Taut, Hugo Häring, Ernst May und Erich Mendelsohn gehörten, fertigte nicht nur eigene Skizzen des Rosenhauses an, er ließ seine Studenten auch regelmäßig Entwürfe nach den Beschreibungen des Romans herstellen – eine Praxis, die, so Bresan, in den 1920er und 1930er Jahren an vielen Architekturhochschulen üblich gewesen sei und in Einzelfällen noch heute praktiziert werde. Paul Schmitthenner erscheint dann als derjenige Architekt des 20. Jahrhunderts, dessen Werk am entschiedendsten von der Lektüre Stifters beeinflusst war. Er "lebte und wirkte", so wird einer seiner Schüler zitiert, geradezu in der Welt des "Nachsommers" – was sich unter anderem daran zeigt, dass Schmitthenner bei eigenen Vorträgen Worte des Dichters nahezu unverändert zur Formulierung seiner eigenen Architekturtheorie nutzte. 

Mag die literarische Qualität von Stifters "Nachsommer" noch so umstritten sein, bei Architekten fand die verlorene Vergangenheit einer bürgerlichen Wohnkultur mitsamt ihrer scheinbaren Treuherzigkeit und Innigkeit immer wieder vielfältige Zustimmung. Während eine kalte und funktionale Architektur des industriell Machbaren sich ausbreitete, erkor sich die Sehnsucht nach einer Alternative Stifters biedermeierliche Rosenhaus-Idylle zu einem Resonanzraum, in dem sich schmuck, appetitlich und wohnlich einrichten kann, wer Architektur nach dem Muster des Freiherrn von Riesach versteht: "Wir lernten an dem Alten; aber wir ahmten es nicht nach". 

Ob eine Orientierung an Stifter als Vorbild in einem neo-bourgeoisen Eskapismus enden muss, in dem, wie Arno Schmidt schreibt, jener "nichtsnutzige Fleiß" wohnt, "den die Eckensteher des Lebens auf eben solche Schnurren, solche ausgesprochenen Feierabendbeschäftigungen verwenden", bleibt offen. Bei Architekten, dessen ist man sich nach der Lektüre von Bresans Rezeptionsgeschichte bewusst geworden, besteht jedenfalls weiter Ansteckungsgefahr.

Uwe Bresan
Stifters Rosenhaus. Eine literarische Fiktion schreibt Architekturgeschichte
248 S., br.
Verlagsanstalt Alexander Koch 2016
ISBN 978-3871819063
16,50 Euro

Noch eine Variation über das Rosenhaus: eine Villa von Paul Schmitthenner.
Auch Martin Heideggers berühmte Hütte in Todtnauberg bringt Uwe Bresan mit dem Rosenhaus in Verbindung.
Die Visualisierung des Rosenhauses von Uwe Bresan, Schnitt
Renderings aus einem studentischen Projekt am Institut Architektur an der Fachhochschule Nordwestschweiz, hier eine Ansicht des Bilderzimmers des Rosenhauses von Valerie Koch.
Ein Rendering vom Speisezimmer des Rosenhauses nach den Vorstellungen von Rolf Zumsteg.