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NACHHALTIGKEIT
Auf den Dächern Rotterdams

Rotterdam ist ein Experimentierfeld für ArchitektInnen und StadtplanerInnen. Mit dem "Rooftop Catalogue", den das niederländische Architekturbüro MVRDV zusammen mit "Rotterdam Rooftop Days" erstellt hat, soll jetzt die dritte Dimension erobert werden.
von Alexander Russ | 15.07.2021

Wenig Grün und Platzmangel sind nicht erst seit Corona oftmals die Gründe für Stadtflucht. Beides hat mit der fehlenden Fläche in innerstädtischen Zentren zu tun – und die braucht es nun mal, um neue Parks zu schaffen. Wer die Natur trotzdem in die Stadt holen will, muss kreativ werden – so wie im Fall der New Yorker Highline, bei der eine nicht mehr genutzte Güterzugtrasse in eine 2,33 Kilometer lange Parkanalage umgewandelt wurde. Etwas ähnliches treibt gerade die Stadt Rotterdam um, nur das es hier um 18,50 Quadratkilometer und nichts weniger als die Eroberung der dritten Dimension gehen soll. So groß sind nämlich zusammengenommen die größtenteils leeren Flachdächer der niederländischen Metropole. Und auf denen ist einiges denkbar, weshalb die Stadt das Rotterdamer Architekturbüro MVRDV und die Festivalbetreiber der "Rotterdam Rooftop Days" (Rotterdamse Dakendagen) beauftragt hat, einen "Rooftop Catalogue" zu erstellen, der mögliche Dachszenarien auflistet.

Die Eroberung der Rotterdamer Dachlandschaft ist für beide Parteien kein neues Unterfangen: Das Festival "Rotterdam Rooftop Days" ermöglicht es seit 2015, verschiedene Dachlandschaften den Sommer über jeweils am Wochenende zu erkunden und bettet seine Exkursionen in ein Kulturprogramm mit Ausstellungen, Dinner und Konzerten ein. Auch MVRDV haben 2016 mit einer 29 Meter hohen und 57 Meter langen temporären Treppeninstallation im Rahmen des Festivals "Rotterdam Celebrates the City" für Aufmerksamkeit gesorgt. Dort hatten BesucherInnen die Möglichkeit, das Dach des sogenannten "Groot Handelsgebouw" zu erkunden, einem Bürogebäude aus den 1950er Jahren am Bahnhofsplatz. Mit insgesamt 300.000 Besuchern, die sich die 180 Treppenstufen hinauf- und hinabmühten, war die Himmelstreppe trotz aller Sicherheitsbedenken ein Erfolg und dürfte dazu beigetragen haben, die Stadt vom Potenzial seiner Dachlandschaft zu überzeugen. Sie ist aber nicht die einzige architektonische Intervention, die in den letzten Jahren versucht hat, eine zweite städtische Ebene nutzbar zu machen. In Bahnhofsnähe entstand 2015 eine temporäre, 400 Meter lange Fußgängerbrücke, die vom Rotterdamer Architekturbüro ZUS (Zones Urbaines Sensibles) entworfen wurde. Die knallgelbe "Luchtsingel", wie sich das Projekt nennt, verbindet drei Stadtviertel und überspannt sowohl eine Straßenbahntrasse als auch die sechsspurige, tiefergelegte Hauptverkehrsstraße "Schiekade". Dabei dockt sie an das Dach des Bürokomplexes "Schieblock" an, das teilweise für Urban Gardening genutzt wird, und führt unter anderem zum "Luchtpark Hofbogen", einem Park auf dem Dach des ehemaligen Bahnhofs "Hofplein".

Daran knüpft nun der "Rooftop Catalogue" an, der mit 130 Vorschlägen aufzeigen will, was man mit Rotterdams Dachflächen alles anstellen kann. Allerdings geht es darin nicht nur um zusätzliche Grünflächen, sondern um eine größtmögliche Bandbreite an denkbaren Interventionen. "Die Nutzung von Dächern kann einen großen Beitrag zur Stadtverdichtung leisten – und sie kann verhindern, dass wir nur noch an den Rändern unserer Städte bauen. Das bedeutet, nicht nur Dachbegrünung zu betreiben, sondern dort auch Türmchen, ein Seniorenquartier oder einen Skatepark zu planen", sagt Winy Maas, Partner von MVRDV dazu. Im "Rooftop Catalogue" wird das anhand farbenfroher Axonometrien illustriert, die als Nutzung unter anderem Sportanlagen, Gemeinschaftsflächen, Solarparks, begrünte Wohn- und Büroaufstockungen, vertikale Gärten und sogar einen Friedhof auflisten. Die Vorschläge unterteilen sich in die Rubriken "Nachhaltigkeit und Begrünung", "Nachverdichtung", "Sport", "Erholung", "Tourismus, Kultur und Freizeit", "Nachbarschaften und sozialer Zusammenhalt" und "Mobilität, Energie und (Versorgungs-)Dienstleistungen", die jeweils den passenden Gebäudetypologien zugeordnet werden. Dabei dient die Auflistung der Möglichkeiten eher als Inspirationsquelle denn als präzise Bedienungsanleitung, was aufgrund der Komplexität des städtischen Gefüges und den damit einhergehenden Rahmenbedingungen wohl kaum anders möglich ist.

Finanzielle Vorteile
Funktionale Vorteile

Trotz des exemplarischen Charakters des "Rooftop Catalogue" verspricht sich die Stadtverwaltung ganz konkrete Auswirkungen für Rotterdam. Neben der bereits erwähnten Möglichkeit der Nachverdichtung sind es auch Effekte wie eine Erhöhung der Biodiversität, die Entlastung des städtischen Entwässerungssystems und eine Senkung der Temperatur im Sommer. "Im Stadtzentrum ist es viel wärmer als an den Rändern der Stadt. Wenn wir die Hitzeerschöpfung reduzieren können, wäre es für alle in der Stadt viel angenehmer. Wir könnten damit gesundheitlichen Problemen vorbeugen, vor allem bei älteren Menschen. Darüber hinaus ist die Wasserspeicherung extrem wichtig: Könnte man das Wasser auf den Dächern speichern und dann nach und nach in die Kanalisation leiten, würden die Straßen nicht mehr nach jedem Starkregen überflutet werden", meint Mattijs van Ruijven, Leiter des Stadtplanungsamts von Rotterdam. Allerdings dürfte der Weg dorthin kein einfacher sein, angefangen bei den komplexen Eigentumsverhältnissen, mit denen auch reguläre Stadterweiterungen zu kämpfen haben. Außerdem müssen konstruktive Rahmenbedingungen wie die statische Belastbarkeit der Dächer oder die Verwendung der richtigen Begrünung in Betracht gezogen werden. Das haben MVRDV mit einem urbanen Wald auf dem Dach des neuen Kunstdepots "Depot Boijmans Van Beuningen" gerade vorgemacht, wo 75 speziell gezüchtete Birken in einer Höhe von 34 Metern angepflanzt wurden.

Nicht zuletzt ist die Diskussion über die Eroberung der Dachlandschaft auch eine Diskussion über das Erscheinungsbild der Stadt. Dabei dürfte dem Projekt zugutekommen, dass es in Rotterdam weniger Vorgaben durch den Denkmalschutz gibt als etwa in Amsterdam. Trotzdem plädiert Winy Maas für ein neues Baurecht: "Ich denke, wir brauchen eine neue Bauordnung, oder besser gesagt eine Dachordnung, mit einer Anlaufstelle für die Hauseigentümergemeinschaften und Unternehmen, die die Initiative ergreifen wollen. Man sollte die vier Elemente – Wasser, Grün, Energie und Bevölkerung – übereinander stapeln können, wie ein Sandwich. Es sollte in einer Art Verordnung festgelegt werden, dass die Dächer in der Lage sein müssen, dieses Gewicht zu tragen. Stärkere Strukturen sind nachhaltiger." Ob die Stadt dieser Forderung nachkommt und die im "Rooftop Catalogue" skizzierten Lösungsansätze dann tatsächlich umsetzbar sind, wird sich zeigen. Es würde Rotterdams Ruf als Experimentierfeld für ArchitektInnen und StadtplanerInnen jedenfalls mehr als gerecht.