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Johanna Seelmann mit "Oase"

JUNGE TALENTE
Design als Methode

Johanna Seelemann ist neugierig und sie lässt sich nicht von Gegebenheiten oder ihren eigenen Annahmen abhalten, diese zu hinterfragen. Ihre Forschungsmethode ist das Design, ihr Labor die Welt der Materialien. Im Interview gibt sie uns einen Einblick in ihr Denken und Arbeiten.
12.04.2024

Elisabeth Bohnet: Deine Ausbildungsorte haben deine Arbeitsweise stark geprägt. Wie ist dein Werdegang?

Johanna Seelemann: Ich habe an der Burg Giebichenstein begonnen Innenarchitektur zu studieren, und bin dann ins Industriedesign gewechselt. Gegen Ende meines Studiums bin ich mit vielen Fähigkeiten im Gepäck zum Austausch nach Island gegangen. Ich wusste immer schon, dass ich in eine kontextuale und systemische Richtung arbeiten möchte, wusste aber nicht, wie ich meine Skills anwenden kann. In Island hat mir total geholfen, mich zu orientieren. Ich habe dort verstanden, in welchem System Rohmaterialien stecken. Das lehrende Team war herausfordernd und die Dynamik im Studium war sehr anders, was mir geholfen hat, meine Arbeit zu entwickeln. Ich habe deswegen die Uni gewechselt und bin letztlich bis zu meinem Abschluss 2016 dort geblieben. Danach bin ich in die Niederlande und habe meinen Master 2019 in Contextual Design in Eindhoven abgelegt. Bereits während des Studions habe ich gerne in Kollaborationen gemeinsame Projekte verfolgt und beispielsweise im Studio von Formafantasma mitgearbeitet. Nach meinem Abschluss habe ich mein eigenes Design Studio gegründet, mit dem ich auch weiterhin regelmäßige mit unterschiedlichen KollegInnen kooperiere.

Wie unterschiedlich arbeiten die Universitäten in Deutschland, Island und den Niederlanden?

Johanna Seelemann: Im Studium in Deutschland haben wir Grundlagen gelernt mit einem starken Fokus auf der Industrie, was sicher da herrührt, dass wir eine ausgeprägte Infrastruktur haben. Die gesamte Design-Philosophie und das Verständnis, was Design ist, unterscheiden sich stark zu den Niederlanden und zu Island. In den Niederlanden ist es in der Definition verankert, dass Design ein Werkzeug ist, um zu debattieren und zu recherchieren, um sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen und zu überlegen, wo es hingehen soll. In Island wiederum gibt es eigentlich kaum Industrie, für die gestaltet werden kann. Deswegen dominiert dort die Denkweise, sich mit lokalen Materialien auseinanderzusetzen, mit dem lokalen Kontext. Aber es dreht sich auch viel um den Zeitgeist und das Experimentieren mit neuen Technologien. Es herrschen eine offene Haltung und eine große Experimentierfreude. Die Lehre in Island war geprägt von der Ausbildung in Eindhoven. Dort ist die Kultur viel länger gewachsen, für diese Arten von Sozialem Design und Informationsdesign und Contextual Design.

Hattest du vorher ein Bezug zu den Niederlanden oder den nordeuropäischen Ländern?

Johanna Seelemann: Nein. Ich bin aufgrund einer Empfehlung dort hin, ohne irgendwas zu erwarten und wurde dann auf gute Art und Weise vollkommen überrumpelt. In Deutschland gibt es viele Strukturen, die sehr lange gewachsen und sehr ausgereift sind. Sobald du in Island anfängst, ein Material zu suchen, musst du einfach losfahren oder jemanden kennen, der jemanden kennt. Es gibt in dem Sinne nicht viel ausgereiftes Handwerk, sondern vielleicht eine Firma, die Aluminium gießt, und relativ viel im Bereich der Wollverarbeitung. Danach kommt nicht mehr viel. Man baut sich folglich die eigenen Werkzeuge. Für mich war es sehr hilfreich in diesen Kontext zu kommen und einen Mangel an Infrastruktur zu erleben, die ich vorher gewöhnt war. Das hat mich automatisch zu gewissen Methoden geführt.

Wie näherst du dich einem neuen Projekt?

Johanna Seelemann: Normalerweise fange ich mit einer theoretischen Recherche oder einer gewissen Idee an, die mich umtreibt. Danach hängt es vom narrativen Material ab. Bei meinem Abschlussprojekt in Eindhoven, "Terra Incognita", habe ich mich mit der deutschen Automobilindustrie auseinandergesetzt. Es fing an mit einer Neugierde auf diesen Industriezweig mit dem Auto als Deutschlands wichtigstem Exportprodukt. In der Geschichte des Automobil-Designs hat man ab den 1920er und 30er Jahren begonnen, Autos zu stylen. Inspiriert von Modestylisten haben die Hersteller Strategien kopiert, um neue Modelle zu verkaufen. Das Design war zuvor vor allem funktional. Ich war absolut fasziniert vom Thema der ästhetischen Innovation und Evolution. Mit dem Kernmaterial für die ästhetische Formgebung, dem Industrieton, werden bis heute Prototypen von Hand geformt. Das hat mich zu den Themen der Adaptionsfähigkeit oder Transformationsmöglichkeit gebracht, und auf die Idee: Was wäre, wenn es Objekte gäbe, die man einfach jedem Stil anpassen könnte, die immer umformbar bleiben? Es entwickeln sich gewisse Gedanken, die ich in das nächste Projekt mittrage.

"Terra Incognita"

Für dein Projekt "Oase" (2023) hast du Terracotta-Behälter gefertigt, die in den Boden eingelassen städtische Bäume bewässern sollen. Kannst du die Idee und die Technik dahinter erklären?

Johanna Seelemann: Das MAKK in Köln hat mich eingeladen zu einem Projekt anlässlich des Ausstellungsthemas "Bäume in Städten". Wir hatten bereits vorher zur Holzproduktion zusammengearbeitet. Bäume in der Stadt haben eine Sonderrolle, sie befinden sich nicht im Wald- oder Holzproduktionskontext. Die Recherche über die Stressfaktoren von Bäumen ergab, dass sauberes Wasser der Kernfaktor für ihre Gesundheit ist. Damit stand für mich fest, mich mit Bewässerung zu beschäftigen. Die "Oase"-Objekte lehnen sich an ein historisches Konzept an, was es schon über Jahrtausende gibt und beispielsweise in der griechischen Antike genutzt wurde. Neben den Bäumen werden Tontöpfe vergraben und befüllt, die das Wasser peu à peu an den Baum abgeben. So verdampft das Wasser weder, noch versickert es und steht damit dem Baum zur Verfügung. Die Idee ist also alt: Ich habe den Archetypen genommen und ihn formal in eine heutige, technische Sprache transferiert. Die Formen wirken wie Kraftstofftanks und erzählen damit auch von der urbanen Konkurrenz zwischen Bäumen und Autos. Wir haben die Tontöpfe in einem kleinen Keramikstudio gefertigt und werden sie zur Mailänder Möbelmesse ausstellen. In der Ausstellung "Micrographia – Redesign for Biodiversity" zeigen wir zwei Versionen: niedrig-gebrannt dient es als Bewässerungssystem und hoch-gebrannt als eine einfache Vase. Hier kommt die Dualität ins Spiel: Design gedacht für die Pflanze, aber auch nutzbar für den Menschen. Und obwohl es praktisch einsetzbar ist, geht es mir im Endeffekt auch um die Geste. Aktuell haben wir eine kleine handgefertigte Kollektion. Aber ich würde mir wünschen, das Projekt größer aufzuziehen und mit einem industriellen Partner marktfähig zu machen.

"Oase"

Neu ist oft gar nicht so neu, oder provokativ gefragt: Kann man noch etwas Neues entwerfen?

Johanna Seelemann: Je mehr ich recherchiere, desto mehr glaube ich, dass es vieles schon gegeben hat. Es gibt definitiv viel Wissen, auf das wir zurückgreifen können. Aktuell geht es im Design eher um die Verhältnisse zu Materialien und zu Produktionsformen oder zu gewissen Standardisierungsregeln, die wir uns selbst geschaffen haben. Zum Beispiel produzieren wir Ausschussmaterialien, die eigentlich unnötig sind, wenn man über eine andere ästhetische Wahrnehmung nachdenkt, wie bei hellen Stellen im Holz oder Astlöchern. Das hat auch mit den Erwartungen zu tun, die wir an eine Qualität haben. Ich sehe das deutlich bei einem Projekt, was ich gerade im Erzgebirge mit der Drechsler Genossenschaft in Seiffen mache. Wir waren mit einem Kollektiv DesignerInnen dort und haben uns mit zahlreichen KunsthandwerkerInnen unterhalten. Die Genossenschaft hat stark mit dem Mangel an Nachwuchs zu kämpfen. In den nächsten zehn Jahren werden fünfzig Prozent der Kunsthandwerkenden in Rente gehen, ohne Nachfolge. Zudem wurde ein Paradoxon offensichtlich: Sie versuchen, jedes Produkt exakt gleich aussehen zu lassen – obwohl die Dinge handgemacht und handbemalt sind. Sie wollen mit dem Handwerk einen Industriestandard reproduzieren. Wir stellten uns die Frage: Was macht ein handgemachtes Produkt eigentlich aus? Was ist die Einzigartigkeit des Handwerks selbst?

Welches Material hat dich am meisten überrascht?

Johanna Seelemann: Zu Beginn meiner Auseinandersetzung mit Lehm gab es definitiv einige Überraschungsmomente, und was alles möglich ist mit einem so simplen Material: wie Lehm in Verbindung mit anderen Materialien wie Stroh oder Dung leistungsfähig werden kann, teils sogar wasserfest; und dass dieses simple Material mit Wasser angelöst immer wieder neu genutzt werden kann; es ist auch ein Material, das weltweit durch alle Kulturen hinweg auf völlig unterschiedliche Weise genutzt wird. In der Europäischen Bildungsstätte für Lehmbau in Wangelin haben wir Workshops gemacht. In diesem Testterritorium habe ich viel gelernt von Lehmbau über Lehmkunst bis zu Stampflehm. Das ganze Gelände ist voller Testwände und Testhäuser – super faszinierend.

Du sagst, man habe ästhetische Erwartungen an ein Material und vor allem an nachhaltiges Design. Wie sehen diese Erwartungen aus?

Johanna Seelemann: Vor ein paar Jahren war eine gewisse "Öko"-Assoziation dominierend in Bezug auf nachhaltiges Design, was sich gerade stark ändert. Kürzlich habe ich mich aber mit Henriette Waal unterhalten, die das Atelier LUMA mitgegründet hat. Sie haben in Südfrankreich eine Stampflehmwand hingesetzt und Kalk mit eingemischt, dadurch wurde der Lehm grau und sah aus wie Beton. Die Lehmbauer waren ganz enttäuscht, weil sie der Meinung waren, es sehe ja gar nicht mehr so natürlich aus, wie es eigentlich ist. Ich glaube schon, dass die Wahrnehmung für Lehm noch in einer Öko-Ecke schwebt, es wird eine runde, weiche Urästhetik erwartet. Es gibt natürlich auch Gegenbeispiele wie Martin Rauch, der in Österreich Lehmbau-Wandstücke fertigt, und mit dem Material anders umgeht.

Die ästhetische Erwartung und aber auch die angenommene Wahrheit bekräftigen sich oft nicht, wenn man sich länger mit den Dingen auseinandersetzt. Du hast dich mit Feuer im häuslichen Gebrauch beschäftigt.

Johanna Seelemann: Für die Vienna Design Week wurde ich im "Passionswege"-Format, mit einem lokalen Hersteller, einem Ofenbauer, zusammengebracht. Das war super interessant, weil ich natürlich erst mal mit meinen ganzen Vorurteilen gegenüber Öfen in Bezug auf Nachhaltigkeit und die Verbrennung von Holz konfrontiert wurde. Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Feuer war unter anderem das Low-tech Magazine relevant für mich. Ich habe gelernt, dass Feuer historisch ganz anders genutzt wurde, als wir das heute wahrnehmen. Heute wird häusliches Feuer zumeist dekorativ genutzt, um ein wohnliches Ambiente zu erzeugen. Aber historisch wurde das eine Feuer im Haushalt für alles Mögliche genutzt, vom Kochen über das Heizen, über das Wäsche trocknen und hin zum Essen präservieren. Es ging auch darum, wie man ein Feuer effektiv pflegt. Auch bei den Holzquellen gab es andere Techniken. Vor rund hundert Jahren waren wohl vierzig Prozent der Wälder in Europa sogenannte Hauwälder. Von schnell wachsenden Bäumen wurden die Äste geerntet, nicht der komplette Baum gefällt, der dann wiederum schneller neue Triebe ausbilden konnte. Es ist natürlich fraglich, ob das in der Dimension, die wir heute benötigen würden, überhaupt möglich wäre. Aber zeigt trotzdem eine andere Methode, mit dem Rohstoff umzugehen. Diese Einsichten führten tatsächlich zu einem Perspektivwechsel. Und wieder: altes Wissen! Was wussten wir eigentlich schon mal und was haben wir vergessen? Weil wir einen gewissen Komfort erreicht haben, sind wir auf bestimmtes Wissen nicht mehr angewiesen, dadurch geht aber auch viel wertvolles Wissen verloren. Das Objekt, das der Ofenbauer und ich dann gemacht haben, war ein Ofen, bei dem wir versucht haben, die Funktionsweise zu ändern. Es können gesamte Stammstücke reingeschoben werden, und darüber, wie weit das Holz reingeschoben ist, wird die Wärme reguliert – und man kann darauf kochen.

Kamin, entstanden im "Passionswege"-Projekt der Vienna Design Week

Du hast dich 2018 und 2023 mit Glas beschäftigt. Was ist die Idee hinter "Vitrum"?

Johanna Seelemann: Wir wollten uns mit recyceltem Glas auseinandersetzen und waren vor allem interessiert an der Ausdruckskraft von Glas. Das Projekt dreht sich um die Fragen: Wann binden wir uns an Produkte? Ist es vielleicht die Einzigartigkeit eines Objekts? Wie kann man Objekte in Serie fertigen, die aber immer wieder starke Einzelstücke sind? Wir wollten über Lufteinschlüsse Unikate produzieren. Spannend war die Arbeit mit dem Glasbläser, für ihn war es natürlich sehr untypisch, in einem Objekt unkontrollierte Lufteinschlüsse zu provozieren. Das Gegenteil ist normalerweise der Standard. Wir haben sehr viel Luft zugelassen – und erfolgreiche Objekte produziert.

"Vitrum"

An was arbeitest du aktuell?

Johanna Seelemann: Wir entwickeln wir gerade ein Objekt, das bald in der von Alice Stori Liechtenstein kuratierten Ausstellung "Wood Land" im Schloss Hollenegg for Design gezeigt werden soll. Aus dem Projekt mit der Drechslergenossenschaft entstand die Idee, zusammen eine Leuchterspinne zu machen. Aufgrund der Bergbaugeschichte, herrschte dort ein besonderes Verhältnis zu Licht. Im 18. Jahrhundert entstanden diese Leuchterspinnen aus dem Versuch heraus, Lüster oder Kronleuchter mit den vorhandenen Mitteln, aus Holz, zu reproduzieren. Dadurch ist eine eigene Objektkategorie entstanden, die es heute kaum mehr gibt. Nur noch wenige Leute produzieren sie, und dann auch in vereinfachter Form, häufig für den weihnachtlichen Kontext. Ursprünglich waren die Leuchten sehr komplex, sie wurden zum Beispiel zu Hochzeiten gemacht oder für besondere Events. Die Formsprache war teils naiv, teils verrückt, aber wirklich wunderschön und sehr faszinierend. Wir wollten die Formen in nicht-weihnachtliche Objekttypologien überführen, um einen anderen Markt zu erreichen als den klassischen Markt für traditionelle Holzobjekte aus dem Erzgebirge. Deswegen haben wir eine Leuchte gemacht, die sehr verspielt ist und eher aussieht wie eine Raumstation, aber immer noch an diese Leuchterspinne erinnert. Es geht darum, die traditionelle Technik in neue Objekt-Typologien umzusetzen.

"Leuchterspinne"

Zudem steht Mailand vor der Tür: Ich habe das Ausstellungsprojekt "Micrographia" erwähnt, das sich im Titel an Robert Hookes Buch von 1665 orientiert und welches ich mit der Unterstützung des Mailänder Architekturbüros Park Associati entwickle. Er hat als erster vergrößerte Zellen von Pflanzen, aber auch Insekten, wie die Frontalansicht einer Fliege extrem vergrößert dargestellt. Die Idee in Mailand ist, mein Habitat Konzept weiterzuführen: Wie können wir urbane Räume gestalten oder Produkte dual gestalten, dass sie auch für andere Lebewesen nutzbar sind? Wir zeigen drei Projekte: Einmal "Oase", als Wasserspeicher und als Vase. Dann gibt es ein Fassadenelement, das wir zusammen mit Ricehouse und Arch3D mit einem Geopolymer 3D-drucken. Dieses Fassadenelement ist wie eine normale vorgehängte, hinterkühlte Fassade, in der aber auch Insekten und Vögel einziehen können. Zudem produzieren wir mit Primat, einer Firma aus der Lombardei, die auf historische Putze spezialisiert ist, eine Samenbombe in Form eines Panettone mit indigenen Samen aus dem Mailänder Bereich. Städte gewinnen gerade an Gewicht bezüglich der Biodiversität. Die Ausstellung rekurriert wieder auf die Frage: Wie gestalten wir unsere Städte? Und wie werden die Städte nicht nur Mensch-fokussiert gestaltet, oder auf welche Weise können wir andere Lebensformen mitbedenken und ihnen Lebensraum ermöglichen? In diesen Bereichen gilt es noch viel zu entdecken und mit der Industrie gemeinsam zu entwickeln.


"Micrographia – Redesign for Biodiversity" @ Mailänder Designwoche
Via Benvenuto Garofalo 31
20133, Mailand

Öffnungszeiten:

16. – 21. April 2024: 12 bis 19 Uhr

Eröffnung: 16. April, 19 Uhr bis 22 Uhr


"Wood Land"

Schloss Hollenegg for Design
Hollenegg 1
8530 Bad Schwanberg, Österreich

Öffnungszeiten:
4. bis 31. Mai 2024