Haltung und Handwerk
Chiara Desbordes: Vom ersten Innenausbauprojekt bis zur größten Batteriefabrik Schwedens – wie verlief dieser Weg, und wie hat sich eure Haltung zur Architektur über die Jahre verändert?
Johan Olsson: Unsere Zusammenarbeit begann 2002 während des Architekturstudiums in Göteborg. 2004 kam dann der erste richtige Auftrag – für ein Lifestyle-Geschäft in einem alten Kino: die Victoria Arena. Das war unser Startpunkt. Was mit Innenarchitekturprojekten begann – Clubs, Restaurants, kleine Häuser – entwickelte sich über die Jahre organisch weiter. Heute reicht das Spektrum von Wohnbauten bis zur größten Industrieanlage Schwedens: einer Batteriefabrik in Göteborg.
Andreas Lyckefors: Von Beginn an sah sich das Büro nicht nur als klassisches Architekturstudio. Auch die Lust an der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen – von Politik bis Landschaftsplanung – prägt unsere Arbeit bis heute.
Euer Portfolio ist unglaublich vielfälltig – von Interiordesign bis großmaßstäblicher Architektur. Was verbindet all eure Projekte?
Johan Olsson: Wir versuchen, nicht zu sehr in ein stilistisches Korsett zu geraten. Es geht uns darum, Architektur zu machen, die aus dem Kontext heraus entsteht. Wir wollen die Situation lesen – und darauf antworten.
Andreas Lyckefors: Es ist fast ein bisschen therapeutisch: Wenn wir merken, dass wir uns wiederholen, verändern wir bewusst unsere Methoden. Wir sind wie Architekturchamäleons – nicht aus Beliebigkeit, sondern weil wir glauben, dass jede Aufgabe eine neue und andere Perspek=ve braucht.
Ihr arbeitet an der Schnittstelle von Architektur, Urbanismus und Grafikdesign. Was treibt euren interdisziplinären Ansatz an?
Johan Olsson: Die Komplexität heutiger Projekte verlangt das geradezu. Mal ist es Nachhaltigkeit, mal soziale Fragen oder Marketing – also arbeiten wir mit ExpertInnen aus diesen Bereichen. Wir sind ein kleines Büro mit einem großen Netzwerk. Manchmal geht es auch um ganz praktische Dinge, wie das Branding eines Restaurants oder die Vermittlung von kulturellem Erbe in Tourismusprojekten. Entscheidend ist: Wir holen uns die Expertise, die das jeweilige Projekt verlangt.
Könnt ihr ein Projekt nennen, das eure Arbeitsweise besonders gut zeigt?
Johan Olsson: Das Merkurhuset in Göteborg, ein Projekt, das wir unter unserem früheren Büronamen Bornstein Lyckefors gemeinsam mit unserem damaligen Mitnhaber Per Bornstein realisiert haben. Es handelt sich um ein Bürogebäude für die Werbeagentur Forsman & Bodenfors, mit dem wir 2022 den Kasper-Salin-Preis gewonnen haben. Die Zusammenarbeit war ungewöhnlich eng – wöchentliche Meetings, gemeinsames Denken, Entwerfen, Entscheiden. Wir haben nicht nur die Architektur, sondern auch das Interior gestaltet. Die vertikale Erschließung ist in abgerundeten, fast skulpturalen Endzonen gebündelt, in deren Zwischenräumen offene und flexible Flächen entstehen.
Andreas Lyckefors: Es ist ein Gebäude, das äußerlich ruhig wirkt, aber im Inneren extrem spezifisch ist und Flexibilität zulässt. Fast wie ein Universitätsgebäude. Es reflektert unsere Haltung: generisch in der Struktur, eigenwillig im Detail. Und es zeigt, wie sehr wir unsere Projekte zusammen mit den AuftraggeberInnen entwickeln – wir entwerfen nichts, das am Ende überrascht. Es ist immer ein gemeinsamer Weg.
Johan Olsson: Ein weiteres Projekt, das viel über unsere Haltung erzählt, ist das Wohnhaus Späckhuggaren. Der Bauherr war ein geschiedener Vater, der mit seinen Kindern näher ans Wasser wollte. Erst dachten wir an eine Bootsform. Dann fanden wir heraus, dass dort früher ein Lagerhaus stand – also änderten wir die Entwurfsidee. Das Ergebnis ist eine Art architektonisches Tetris: Ein kleines Haus, das sich allerdings groß anfühlt – mit fließenden Übergängen, unterschiedlichen Raumhöhen und maximaler, flexibler räumlicher Effizienz. Fast wie ein Adolf-Loos-Schnitt.
Andreas Lyckefors: Im Inneren des Hauses zu sein, fühlt sich an wie unter einem Apfelbaum zu sitzen: Licht fällt von allen Seiten ein und formt den Raum auf dynamische und unerwartete Weise. Die Architektur scheint mit der Landschaft verwoben, und das räumliche Erleben entfaltet sich in drei Dimensionen.
Ihr sprecht oft über Flexibilität. Ist das für euch ein Schlüssel zur Nachhaltigkeit?
Johan Olsson: Absolut. Ein gutes Gebäude muss auf viele Szenarien reagieren können – heute Büro, morgen Restaurant, übermorgen etwas ganz anderes. Dafür braucht es strukturelle Klarheit und räumliche Großzügigkeit. Wir arbeiten derzeit an einem Gebäude im Süden Göteborgs mit dem Namen The Tailor, bei dem das Nutzungskonzept noch völlig offen ist: Co-Working, Gastronomie, Spa – alles ist möglich. Die Gestaltung muss dieser Offenheit gerecht werden – und genau das macht das Projekt zukunftsfähig.
Andreas Lyckefors: Häufig liegt die Zukunft in der richtigen Spannung zwischen Spezifität und Offenheit. Merkurhuset ist da ein gutes Beispiel – es war ursprünglich als Wohnbau zoniert, wir mussten mit zu niedrigen Decken für Büros arbeiten. Aber gerade das hat uns zum Umdenken gezwungen: Was ist eigentlich ein gutes Maß? Wie sieht eine Struktur aus, die beides leisten kann?
Wie reagieren NutzerInnen auf eure Gebäude?
Andreas Lyckefors: Für uns ist entscheidend dass Räume offen für Veränderung sind. NutzerInnen sollten sich darin wiederfinden. Deshalb entwickeln wir das architektonische Konzept immer gemeinsam mit den AuftraggeberInnen. Sie sind MitautorInnen, nicht bloß KundInnen.
Johan Olsson: Im Merkurhuset sagen die NutzerInnen: "Das ist wie eine kreative Fabrik." Die Räume sind roh, flexibel, robust. Man darf sie benutzen, ohne Angst vor Kratzern oder Makeln. Das gibt Freiheit, so sollte Architektur sein. Wir haben ein Diagramm, das unsere Denkweise ganz gut zeigt: Auf der einen Seite steht "roh", industrielle Räume, robust, ehrlich. Auf der anderen Seite steht "raffiniert" – sorgfältig gestaltet, edel. Beides funktioniert. Aber in der Mitte liegt das Langweilige – weiße Rasterdecken, austauschbare Details. Da wollen wir nie hin. Denn Mittelmaß ist weder nachhaltig noch wirtschaftlich sinnvoll. Wer Räume mit Charakter schafft, muss sie nicht ständig neu gestalten. Das spart Ressourcen, materiell wie geistig.