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Ricardo Bofill

NACHRUF
Die Architektur des Bildhauers

Der katalanische Architekt Ricardo Bofill ist 82-jährig verstorben. Unser Nachruf.
von Anna Moldenhauer | 14.01.2022

Ricardo Bofill war ein Sammler: Er trug architektonische Elemente zusammen, sowohl aus der historischen Architektur seiner Heimat Katalonien, wie auch von seinen Reisen in die ältesten Städte der Welt – von Afrika über Asien bis nach Europa. Seine visionären Arbeiten werden der Postmoderne zugeschrieben, doch dank der großen Spanne der Baustile die ihn inspirierten, geht sein Œuvre über jegliche Kategorisierung hinaus. Statt einem Trend zu folgen, schuf er Bauten, die ihrer Zeit stets voraus waren. Erdachte labyrinthhafte Strukturen und imposante Verschachtelungen, die zugleich surreal und rational anmuten. Bofill erreichte dies, indem er Bezug auf die Orte nahm, an denen seine Architektur entstand. Schenkte organisch gewachsene Räume, die nicht nur funktional, sondern auch auf einer spirituellen Ebene zugänglich sind. Wie eine Stadt in der Stadt bieten viele seiner über 1000 Werke flexible Flächen für ein soziales Miteinander sowie für gesellschaftliche Integration. Dank zahlreicher Terrassen, Höfe und Fenster werden die Grenzen zwischen Innen und Außen fließend. Die Kompositionen sind dabei nicht einem Verfahren untergeordnet, sondern dienen der Suche nach individuellen und idealistisch gedachten Lösungen. Paläste für die Gemeinschaft, wie der soziale Wohnungsbau "Walden 7" in der Peripherie von Barcelona oder der Apartmentkomplex "La Muralla Roja" im spanischen Manzanera. Selbst vorgefertigte Bauteile wusste er kreativ in seine Projekte zu integrieren, wie für die Wohnhäuser "Les Arcades & les Temples du Lac" bei Paris. Mit dynamischen Formen und einem starken Farbgefühl setzte er so den modularen Bauten eine faszinierende Alternative vor. Deren immense Ausmaße und inszenatorischen Überhöhungen können mitunter dystopisch wirken, ihre Atmosphäre schwankt zwischen hell und dunkel. Ein Effekt, der polarisierte und sie häufig zur Filmkulisse werden ließ.

Geometrische Klarheit zeigen hingegen die Entwürfe der 2000er Jahre, wie für die Université Mohammed VI Polytechnique bei Marrakesh, die das architektonische Erbe der Region mit modernen Elementen verknüpft. Glas und Stahl fanden den Weg in seine Pläne, um das Hochhaus "77 West Wacker Drive" in Chicago oder das segelförmige "Hotel W" in Barcelona zu realisieren. Eine zeitgenössische Architektur, die effizient wie sinnlich ist und klassische Formen mit den Geist der Gegenwart zu verbinden weiß. Bofills letzte Utopie wird unvollendet bleiben – der Sitz des Architekturbüros Ricardo Bofill Taller de Arquitectura (RBTA) und seiner eigenen Wohnräume ist eine ehemalige Zementfabrik in der Nähe von Barcelona. Auf den Ruinen der Industriesiedlung mit zahlreichen Tunneln und Hallen baute er seit 1975 auf 5000 Quadratmetern die kolossale "La Fábrica". Sein Ansatz glich dabei dem eines Bildhauers: Statt schlicht auf das Vorhandene anzudocken, arbeitete er mit der archaischen, kathedralenhaften Pracht der Betonsilos und kreierte so eine einzigartige Ästehtik, eingebettet in herrlich dschungelhafte Natur. Heute ist Ricardo Bofill in Barcelona verstorben.

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