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Helmut Jahn

NACHRUF
Bis zuletzt immer hoch hinaus

Nein, nicht alle Gebäude, die Helmut Jahn in seiner langen und äußerst erfolgreichen Laufbahn bauen konnte, waren Hochhäuser. Und doch sind es seine Bekanntesten, mit ihnen hat er sich den wunderbaren Spitznamen "Turmvater Jahn" redlich verdient. Vor kurzem ist Helmut Jahn im Alter von 81 Jahren in seiner Wahlheimat den USA gestorben.
von Florian Heilmeyer | 12.05.2021

Jahns Karriere war wie aus dem Bilderbuch. 1940 in Zirndorf bei Nürnberg geboren, studierte er Architektur an der TH München und erhielt dort 1965 sein Diplom. Anschließend ging er nach Chicago, für ein Postgraduiertenstudium am Illinois Institute of Technology; auch wegen dem großen, alten Mies van der Rohe, den Jahn dort gerade noch kennenlernte, bevor der Altmeister starb. Im Frühwerk von Jahn sind viele Anklänge von van der Rohes sehr reduzierter Architektursprache zu finden, jener "klassischen Moderne", klar und reduziert auf das Wesentliche. Helmut Jahn fand eine Anstellung im großen Büro von Charles Murphy in Chicago, dort war er schon zu Beginn seiner Laufbahn an großen Projekten beteiligt, Gerichtsgebäude, Bibliotheken, Sport- und Kongresshallen, Bürokomplexe, Banken. Das ist die Größenordnung, in der er sich wohl fühlte. In diesem Maßstab hat er Zeit seines Lebens gebaut.

Bei Murphy arbeitete er sich kontinuierlich hoch. Schon sechs Jahre nach seinem Einstieg wurde er "Director of Planning and Design", dann Partner und ab 1983 hieß das Büro Murphy/Jahn. Murphy selbst zog sich immer mehr aus dem Tagesgeschäft zurück, aber aus alter Verbundenheit mit seinem Förderer beließ Jahn es lange beim gemeinsamen Büronamen. Erst 2012 wurde das Büro umbenannt und heißt heute einfach JAHN. Es war eine dieser berühmten amerikanischen Karrieren, die eigentlich Stoff für eine Verfilmung sind: Vom Tellerwäscher zum Millionär, oder naja, soweit ein solcher Reichtum in der Architektur eben möglich ist. In jedem Fall wird Jahn berühmt und zu einem der bekanntesten deutschen Architekten, der Gebäude auf vier Kontinenten realisierte.

Natürlich veränderte sich seine Architektursprache. Von Mies van der Rohes Diktum "Less Is More" war schon in den 1970er-Jahren immer weniger übrig. Jahn interessierte sich immer stärker für die Bautechnik und das Ingenieurwesen, immer öfter wurden in seinen Entwürfen die Technik und das Tragwerk selbst zu unverhüllten Themen. Sein Durchbruch kam mit dem "State of Illinois Center" in Chicago, heute das "James R. Thompson Center", das Jahn 1979-1985 entwickelte. Das offene, halbrund verglaste Atrium im Herzen des Gebäudes mit roten Metalltreppen und gläsernen Fahrstühlen ist nicht nur Sinnbild der transparenten amerikanischen Demokratie, sondern Jahn bewies damit auch, dass er sich zu einem der wichtigsten Vertreter der High-Tech-Architektur jener Ära entwickelt hatte, wie Richard Rogers und Norman Foster in England oder Renzo Piano in Italien. Wie etwa beim Centre Pompidou in Paris oder beim Lloyd’s Building in London wird die technische Ausstattung der Gebäude, die Lüftungsrohre, Rolltreppen und Fahrstühle, hinter großen Glaswänden der transparenten Fassade sichtbar ausgestellt, wie in gläsernen Vitrinen. Diese Häuser strahlen und funkeln in Metall und Glas. Im übertragenen Sinne strahlen sie auch den unbedingten Glauben aus, durch den Einsatz von hochwertiger Technik eine bessere Zukunft herbeibauen zu können. Es sind Gebäude des Fortschrittsoptimismus und eines verspäteten "Moon Age", in dem der Menschheit keine Grenzen gesetzt sind.

Aber Jahn fand einen eigenen Stil, indem er postmoderne Elemente und Zitate aus der Baugeschichte in seine Entwürfe streute. In Frankfurt setzt er dem Messeturm (1985-1990) ein merkwürdiges Dreieck auf den Kopf, als handele es sich bei diesem damals höchsten Gebäude in Europa lediglich um einen gut gespitzten, sehr großen Bleistift. Gebäude wie der One Liberty Place in Philadelphia, das City Spire Center in New York oder der Bank of America Tower in Florida sehen aus, als seien sie aus verschiedenen Bauteilen zu einer glatten, aerodynamischen Figur zusammengesteckt. Wie seine britischen Kollegen Rogers und Forster interessiert sich auch Jahn für Boote und Autos, seine Yacht "Flash Gordon" gewinnt unter anderem auch einmal den "Farr 40 North American Cup". Diese Interessen unterstreichen seine Architektur, die Kräfte zeigt und alles Überflüssige weglassen möchte, um die glatte, glänzende Figur eines Flugzeugs, eines Rennboots oder eines Straßenkreuzers zu finden.

Jahn baute und baute. Niemand hat je zusammengerechnet, auf wie viele Höhen- oder Quadratmeter er wohl insgesamt kam, aber wir können sicher sein, dass es eine enorme Zahl wäre. Vom Flughafen in Bangkok zur EU-Kommission in Brüssel bis zum Shanghai New International Exhibition Center reichte die Palette. Auch nach Deutschland wird er immer wieder eingeladen, wenn man sich ein wenig Glitzer von genau dieser strahlenden Glas-und-Stahl-Architektur wünschte: In München entwarf er das Airport Center und die Highlight Towers, in Bonn den Post Tower und den Bahnhof für den Köln-Bonner Flughafen, in Leverkusen die Konzernzentrale für Bayer, in Bremen den Weser Tower und im wiedervereinten Berlin das Sony Center und den "Bahntower" am Potsdamer Platz – und so vieles mehr. Allerdings: Wie die Namen der Gebäude sind oft auch die Entwürfe sehr kommerziell, was ihm die Kritik einbringt, eher Geschäftsmann denn Architekt zu sein, ein "corporate architect" eben. Jahn selbst fütterte diese Betrachtungsweise gerne in Interviews, etwa wenn er seine Auffassung von guter Baukunst so zusammenfasste: "Das Beste ist, wenn am Ende ein gutes Gebäude dasteht, das auch gut Geld verdient." Noch 2019 erschien ein Interview mit ihm in der Welt am Sonntag, in dem er betonte, Architekten seien keine Künstler, sondern "Problemlöser", die Kosten und Termine zu beachten hätten. Dass man ihn nicht als Baukünstler schätzte, der er dennoch in seiner ständigen Suche nach einer optimalen, technisch-ingenieurhaften Problemlösung war, es wird ihm wohl recht gewesen sein.

Bis zuletzt blieb Jahn ein Baumeister, der sich immer weiter entwickelte, dem die Frage nach einem "Stil" oder einer erkennbaren "Handschrift" wenig bedeutete. Architektur müsse nicht nur schön, sondern auch zukunftsfähig sein, das hat ihn immer weiter voran getrieben, immer nach neuen Lösungen suchen lassen - mit einem Büro, das neben der Zentrale in Chicago schon seit vielen Jahren auch Filialen in Berlin und Shanghai unterhält. Das Geschäft brummte, der Bau eines 243 Meter hohen Wohnturms in Chicago hatte jüngst begonnen und im schwäbischen Rottweil hat er 2018 – gemeinsam mit Werner Sobek – einen seiner überhaupt bemerkenswertesten Türme fertig stellen können: Eine 246 Meter hohe, in sanften Spiralen sich aufwärts schwingende Struktur, die hoch über der Landschaft thront und in der Aufzüge getestet werden – jene Erfindung, mit der der Bau von Hochhäusern einst überhaupt erst möglich wurde.

Diese unglaublich schlanke, hohe Nadel ist nicht nur ein Meisterwerk der Baukunst, sondern auch ein Bauwerk, das ganz hervorragend zu jemandem passte, der den Spitznamen "Turmvater Jahn" trug – jemand, der bis zuletzt immer hoch hinaus wollte, obwohl er dort doch eigentlich schon lange angekommen war.

Der Bau des thyssenkrupp Elevator Testturms im Zeitraffer