Die Stille festhalten
Anna Moldenhauer: Was reizt dich an der Fotografie von Räumen, sei es innen oder außen?
Satijn Panyigay: Ich habe an der Utrecht School of Art Fotografie studiert und in meinem Abschlussjahr (2010) die Beziehung zwischen Leben und Tod mit der Kamera erforscht. Dafür hatte ich in einem Projekt die Möglichkeit ein Unternehmen zu begleiten, das Wohnungen von Verstorbenen entrümpelt, wenn es keine Verwandten gibt, die diese Aufgabe übernehmen können. Ich entdeckte während dieser Zeit die Geschichten, die ein Zimmer oder ein Raum anhand der menschlichen Spuren erzählen kann, ohne dass die Personen anwesend sind, die dort gelebt haben. Die Serie hieß "Behind Death's Door". Es hat mich fasziniert, wie viele Emotionen in einem Raum sein können, aber auch, mit wie vielen Vermutungen der Verstand diese Leere füllen will. Ich schätze, dass ich in dieser Zeit ein Interesse an leeren Räumen entwickelt habe. Diese bieten Stille, wie in einem abgeschotteten Teil der Welt. Das Leben ist im Gegensatz dazu hektisch und es gibt viele Reize. Daraus entwickelte sich mein Interesse am leeren Raum an sich und an diesen meditativen Momenten, die ich beim Fotografieren erleben konnte. So konnte ich das Interesse an den Geschichten des Lebens mit meiner Liebe zur Architektur zu verbinden. Im Anschluss an das Projekt habe ich Räume gesucht, die nicht die Schwere eines akuten Verlustes mit sich brachten. In diesen Räumen konnte ich beim Fotografieren meditative Momente erleben. Wenn ich nun Architektur nachts im Außenraum fotografiere, ist das nicht immer so. Als Frau ist man in der Nacht sowieso immer ein wenig aufmerksamer, ob sich jemand nähert. Die neue fortlaufende Fotoserie "Nightcall" zeigt ein wenig von dieser Spannung; die zuvor angenehme Stille verwandelt sich in eine geheimnisvolle und manchmal unheimliche Atmosphäre.
Deine Kamera, eine Fujifilm GX680III, ist ein großes Modell, sprich der Aufbau braucht einige Zeit – wie kann ich mir deine Arbeitsweise vorstellen?
Satijn Panyigay: Als ich die Wohnungen fotografiert habe, während sie leergeräumt wurden, musste ich sehr schnell arbeiten, denn eine Sekunde später konnte die Szene von den EntrümplerInnen verändert worden sein. Die Herausforderung bestand darin, sich mit einer schweren Ausrüstung schnell zu bewegen und gleichzeitig ein Bild einzufangen, das Ruhe ausstrahlt. Das ist mir gelungen, aber ich ziehe den langsamen Prozess vor. Für die Fotos eines der leeren Museumsgebäude, die auf eine Renovierung warten, hatte ich zum Beispiel mehrere Tage Zeit, um mich mit dem Gebäude vertraut zu machen, meine Kamera einzurichten und die Momente einzufangen. In anderen Fällen hatte ich zwischen den Ausstellungswechseln nur 20 Minuten Zeit. Den Unterschied sieht man auf den Fotos meiner Meinung nach nicht. Bei den Aufnahmen in der Nacht muss ich die Situation sehr gut abmessen, da kaum Licht vorhanden ist. Ich arbeite mit einem analogen Film, sprich ich muss die Motive überlegt auswählen. Den langsamen Prozess bevorzuge ich generell, da er im Gegensatz zu der Geschwindigkeit unseres Alltags steht. Alles muss schneller, schöner, größer, ausgefeilt sein und heutzutage sogar KI-generiert. Ich denke, dass wir als Menschen mehr auf unseren natürlichen Rhythmus hören sollten.
Die abstrakten architektonischen Strukturen, die du in Städten wie Utrecht oder Frankfurt am Main ausgewählt hast, sind geradlinig und klar. Um welche Stadt es sich handelt wird daraus nicht ersichtlich, es könnte eine Einzige sein. Suchst du gezielt nach einer Art der Linienführung oder ist der Zufall dabei?
Satijn Panyigay: Ein wenig von beidem. Die ersten Motive habe ich gefunden, als ich nachts mit dem Fahrrad von meinem neuen Atelier in Utrecht nach Hause fuhr und die hellen Formen gesehen habe, die aus der Dunkelheit auftauchten. Es hat etwas gedauert, bis ich daran dachte, sie zu fotografieren, denn in den letzten Jahren habe ich fast nur in Innenräumen gearbeitet. Dann sah ich all diese leeren Gebäude von außen in einem ruhigen Moment, im Licht der Straßenlaternen. Das Foto aus diesem Blickpunkt anzufertigen, gab mir die Möglichkeit einen wirklich leeren Raum festzuhalten, denn ich selbst war in diesem nicht anwesend. Mein Blick hat sich durch diese neue Sichtweise weiterentwickelt und den Aufnahmen eine neue Ebene gegeben. Ich streifte einige Abende lang durch meine Stadt und entdeckte weitere nächtliche Schönheiten. Dennoch ist die Suche, das Finden und sich finden lassen der Motive nicht immer einfach. Letzten Dezember war ich zum Beispiel für einige Wochen mit meiner Kamera in Berlin, einer Stadt, die ich liebe, aber ich konnte keine Strukturen entdecken, die zu meiner Serie passten. In Frankfurt hingegen, ein paar Wochen später, war die Inspiration sofort da. Die Atmosphäre ist einfach anders. Für ein gutes Motiv müssen viele Faktoren zusammenkommen, die Umgebung und meine Stimmung. Und die Fähigkeit, empfänglich zu sein für das, was das Leben mir gibt.
In deinen Fotografien sind menschliche Körper nicht anwesend, aber Spuren ihrer Existenz. Die Gebäude wurden von Menschen entworfen und realisiert, wie das Foto von dir als Mensch aufgenommen wird. Das Bild zeigt quasi einen Zustand zwischen Abwesend und Anwesend. Du könntest stattdessen Landschaften fotografieren, die nicht so offensichtlich von einem Menschen beeinflusst sind – warum hast du dich für diese Art der Motivwahl entschieden?
Satijn Panyigay: Ich bin sehr gerne in der Natur, weil sie mir ein Gefühl der Ruhe und Erdung gibt. Ich finde, die Natur ist schöner als alles andere. Ich bewundere Menschen, die die Natur fotografieren, und vielleicht fange ich irgendwann auch damit an. Aber im Moment habe ich nicht das Gefühl, dass ich die Natur besser fotografieren könnte, als ich sie wahrnehme, oder etwas Neues beitragen könnte. Außerdem ist es mir nicht ruhig genug, es passieren dort viele Dinge gleichzeitig, wie die Bewegung der Blätter oder der Vögel. Alles fließt, es ist wild und sehr organisch, genau wie ich selbst. Mein Interesse gilt eher der Art und Weise, wie wir Menschen so tun, als wären wir nicht Teil der Natur, obwohl wir es sind. Was ich an der Architektur liebe, ist, dass sie einen Rhythmus hat. Die Strukturen sind klar und linear. Das ist es, was mich wirklich anspricht. Die Gebäude oder die Themen, die ich wähle, sind eine Art Muster. Ich wünschte, mein Gehirn würde manchmal etwas mehr so funktionieren und das Leben würde etwas mehr nach diesen Regeln ablaufen. Aber wie du weißt, ist das Leben fließend und verändert sich ständig. Ich wähle diese von Menschen geschaffenen Motive, weil sie perfekt erscheinen, aber wenn man genauer hinsieht, erkennt man die Unregelmäßigkeiten des echten Lebens. Oft hat der Boden Kratzer und Flecken. An der Wand ist etwas abgebrochen. Man sieht, dass jemand einen Vorhang am Fenster etwas tiefer gezogen hat als einen anderen. Es sind diese kleinen Dinge, die die eigentlichen festen Strukturen menschlicher und organischer machen. Das ist es, was ich so interessant finde, diese Reibung, die mich anspricht.
Als ich mir deine Bilder zum ersten Mal ansah, war ich mir nicht sicher, ob es sich um eine Fotografie, ein Gemälde oder eine Zeichnung handelt. Warum hast du eine Ausdrucksform gewählt, die in gewisser Weise eine interdisziplinäre Arbeit darstellen könnte?
Satijn Panyigay: Vielen Dank dafür! Es ist für mich immer ein Kompliment, wenn meine Bilder als etwas anderes als Fotografie interpretiert werden können – auch wenn ich das Medium in all seinen Facetten liebe. Ich denke, es ist zu einem großen Teil das analoge Medium, das ich bevorzuge und das zu mir passt. In dem Moment, in dem man ein Foto macht, sieht man das Ergebnis nicht und konzentriert sich mehr auf den Prozess. Ich mag auch die Langsamkeit, mit der man mit Film arbeitet, und die leichte Unschärfe, die die geraden Linien ein wenig weich und körnig macht. Ich mag die Aufteilung des Lichts in Farben. Manchmal gibt es an einem Ort ein normales Licht, und bei einem digitalen Bild würde man nur einen weißen Farbverlauf sehen, der in die Dunkelheit übergeht. Bei den analogen Bildern ist die Farbgebung manchmal wie ein Regenbogen, all diese Töne sind fragmentiert, was eine zusätzliche Ebene darstellt. Ich denke also, dass die etwas malerische Wirkung in erster Linie auf die analoge Arbeitsweise zurückzuführen ist. Ich habe einen Film gewählt, der eigentlich für das Fotografieren von menschlicher Haut gedacht ist. Ich nehme die Wärme heraus, so dass meine Bilder etwas kühler werden; die Blau-, Violett- oder Rosatöne treten stärker hervor. Mir gefällt die Weichheit, die dadurch entsteht, und man könnte sagen, dass ich die Haut von Gebäuden fotografiere, wodurch die harten Materialien menschlichere Merkmale erhalten.
Interessant finde ich auch die Stille, die deine Fotografien ausstrahlen, die angenehm wie melancholisch wirkt. In den Räumen, die du mit der Kamera eingefangen hast, könnte man sich sehr klein und allein fühlen. In gewisser Weise sind es Räume, in dem man sich Fragen über sein Wesen und sein Leben stellen kann. Es gibt nicht viel Input, man ist allein mit der Struktur und einer Umgebung, die die Möglichkeit lässt, den Eindrücken und Emotionen nachzuspüren. Warum ist diese Stimmung für dich interessant?
Satijn Panyigay: Zunächst einmal bin ich sehr gerührt zu hören, dass meine Fotografien diesen Eindruck erwecken, denn das ist nicht immer der Fall. Manche interpretieren meine Arbeit als reine Architekturfotografie. In meinen Fotografien verarbeite ich vor allem Gefühle wie Einsamkeit und Alleinsein. Manchmal ist es schwierig, das Leben in den Griff zu bekommen und seinen Weg zu finden. Zudem muss man sich mit allem auseinandersetzen, was in der Welt vor sich geht. Meine Arbeit hilft mir, mit diese Emotionen umzugehen und ihnen Raum zu geben, und gleichzeitig möchte ich anderen Menschen zeigen, dass sie nicht die Einzigen sind, die diese Empfindungen haben und mit ihnen kämpfen. In diesem Sinne sollen meine Fotografien auch ein Element des Trostes bieten. Am Anfang war meine Arbeit sehr schwermütig-melancholisch, und dann kam mehr Licht ins Spiel. Es war eine Art Tanz zwischen Dunkelheit und Licht, Traurigkeit und Staunen – all diese Emotionen kombiniert. Ich bin sehr empfindsam und mache alles mit dem Herzen. Durch meine Arbeit lerne ich mich selbst besser kennen und kann loslassen. Das ist ein interessanter Prozess, für den wir uns kaum Zeit nehmen. Einfach bei uns selbst zu sein, mit uns selbst. Da ich ein Mensch bin und alle meine Gefühle und Emotionen universell sind, und die Themen, mit denen ich arbeite, sich oft nicht allzu sehr steuern lassen, ermöglicht es anderen Menschen, ihre eigene Bedeutung darin zu finden. Natürlich ist es immer etwas ganz Besonderes, wenn jemand etwas von seiner eigenen Seele in deiner Seele wiedererkennt, aber manchmal fühle ich mich ein wenig verletzlich, wenn ich über diese Hintergrundaspekte spreche.
Das erreichst du meiner Meinung nach tatsächlich, indem deine Fotografien viel Raum für Interpretation lassen. So kann die betrachtende Person selbst entscheiden, ob sie eher eine Architekturaufnahme sehen möchte oder die Emotionen zulässt, die in dieser zu finden sind.
Satijn Panyigay: Ich liebe die Vorstellung, dass ein Werk von einem sehr persönlichen Standpunkt aus geschaffen werden kann, was bei meiner Arbeit der Fall ist, aber wenn es in einer Ausstellung oder bei jemandem zu Hause hängt, ist es nicht mehr mein Werk, sondern das, was die BetrachterInnen darin sehen. Und das kann im Grunde alles sein.
In deiner Publikation "VOID" hast du Momente der Leere gesammelt, Zwischenzustände. Was möchtest du mit diesen Aufnahmen vermitteln?
Satijn Panyigay: Für mich war es nie so wichtig, eine Botschaft zu vermitteln, denn ich fotografiere in erster Linie für mich selbst. Aber man könnte sagen, dass ich mit meiner Arbeit die Menschen dazu inspirieren möchte, die "gewöhnlichen", alltäglichen Dinge mit mehr Aufmerksamkeit zu betrachten, sich generell mehr Zeit zu nehmen, um das Erlebte zu verarbeiten, und ich würde gerne etwas Platz schaffen oder Raum hinzufügen – im wörtlichen und übertragenen Sinne – für Kontemplation. Es sind die normalen Dinge, die mich faszinieren, wie ein leerstehendes Museumsgebäude bevor der Umbau für die nächste Ausstellung beginnt. Die BesucherInnen bekommen diesen Stillstand nicht zu sehen, nur dank meiner Kamera darf ich hinter die Kulissen schauen und diese besonderen Momente festhalten, die doch alltäglich sind. Manchmal erinnert mich das an alte Fotoalben, in denen man die Höhen und Tiefen im Leben eines Menschen sehen kann, aber nicht so sehr die kleinen, unbedeutenden Momente, die für Struktur gesorgt haben. Das ist alles Teil des Lebens. Die Lücke zwischen diesem und jenem Ereignis ist etwas, das mich fasziniert. Die Momente, die ich für "VOID" ausgewählt habe, ähneln den leeren Momenten in der Stadt, zum Beispiel nachts, wenn in einem Hochhaus nur noch ein Licht brennt. Wahrscheinlich ist niemand da; jemand hat einfach vergessen, das Licht auszumachen. Das ist für mich ein sehr interessanter Zwischenmoment, wenn nichts passiert, aber das Licht noch an ist. Und man weiß ja nie, vielleicht arbeitet dort jemand, denn unsere heutige moderne Gesellschaft ruht nie wirklich.
Woran arbeitest du gerade?
Satijn Panyigay: Ich habe gerade zwei Projekte für die nächtliche Fotoserie abgeschlossen und auch jeweils Arbeiten dazu ausgestellt, unter anderem in der Galerie Peter Sillem in Frankfurt (zu sehen bis Samstag, 24. August 2024). Nach einer kurzen Sommerpause werde ich bei Hartmann Projects, dem Verlag meines Buches, in deren Bürogalerie in Stuttgart ausstellen (21. September bis 23. November 2024). In den nächsten sechs Monaten werde ich an vier großen Auftragsprojekten arbeiten. Es ist toll, als Künstlerin so gefragt zu sein. Bei zwei der Projekte handelt es sich um ein Gebäude bekannter Institutionen, das gerade renoviert wird. Parallel dazu habe ich eine Liste von Räumen, die ich gerne fotografieren würde. Architektur bei Nacht fasziniert mich auch weiterhin, aber da ich noch andere schöne Dinge um mich herum sehe, möchte ich meine Suche in anderen Städten fortsetzen.
VOID
Künstlerbuch
Hardcover-Flachbuch
21,2 x 32 cm
Ausklappbares Format: 42,4 x 64 cm
Erschienen bei Hartmann Books, 2023
Gestaltung von -SYB-
104 Seiten | 39 Abbildungen | 14 Ausklappseiten
Gestanzter Einband, vollfarbige Bilder, Farbe auf Schnitt
Auflage: 750 Stück
ISBN 978-3-96070-099-9
68 Euro