NACHHALTIGKEIT
Experimentelle Tradition
Alexander Russ: Sie haben in Großstädten wie London, Berlin, Amsterdam und Oslo gearbeitet. Wie sind Sie auf das Thema ländliche Architektur und den Standort Rügen gekommen?
Susanne Brorson: Ich komme ursprünglich von Rügen. Nach meinem Architekturstudium in Weimar bin ich nach London gezogen und habe dort bei Stephen Taylor Architects und East Architecture Landscape Urban Design gearbeitet. Das sind eher kleine Büros, die sich stark mit dem Kontext der Stadt London und bestimmen Stadtteilen auseinandersetzen. Es gab dort auch einen Fokus auf das Klima und darauf, mit welchen Materialien man in welcher Klimazone baut. Das hat mich sehr inspiriert. Vor zehn Jahren habe ich dann eine Dissertation zu klima- und ressourcengerechter Architektur begonnen und dazu den Ostseeraum untersucht. Dabei ging es unter anderem darum, wie traditionelle Wohngebäude auf das lokale Klima reagieren und welche Materialien zum Einsatz kommen. Als ich mal im Sommer auf Rügen war, habe ich ein EW58-Haus aus den 1950er Jahren entdeckt. Das ist ein standardisierter Einfamilienhaustyp der DDR. Das habe ich dann zu meinem Wohnhaus mit Büro umgebaut und die Erkenntnisse aus meiner Dissertation in die Praxis umgesetzt.
Was zeichnet die lokale Baukultur im Ostseeraum aus?
Susanne Brorson: Das ist ein großer Untersuchungsraum. Trotzdem gibt es viele Gemeinsamkeiten, weil das nördliche Klima hier ähnliche architektonische Antworten hervorgebracht hat – auch wenn der kulturelle Hintergrund variiert. Entscheidend ist aber, in welchem Klima man lebt und welche Materialien als Ressource zur Verfügung stehen. In meiner Dissertation habe ich zum Beispiel untersucht, wie sich das Bauen über die Jahrhunderte entwickelt hat. Als es noch viel Holz gab, wurden die Gebäude in Blockbauweise errichtet. Als der Holzbestand dann abnahm, hat der Fachwerkbau an Bedeutung gewonnen. Hinzu kamen Lehm, Stroh. Moos, Birkenrinde und Seegras als Baumaterialien. Ich habe das Ganze dann in einen südlichen, zentralen und nördlichen Ostseeraum unterteilt. Trotz der wechselhaften Geschichte findet man hier jeweils viele bauliche Gemeinsamkeiten.
Können Sie das genauer beschreiben?
Susanne Brorson: Die Gebäude sind zum Beispiel oft um Höfe gruppiert, wobei die vorherrschende Windstärke vorgibt, wie geschlossen sie sind und wo sie sich öffnen. Hinzu kommt das Saisonale Wohnen, also eine jahreszeitenabhängige Nutzung der Wohnhäuser. Das ist als Strategie sehr ausgeprägt und auf heute gut übertragbar. Ein Beispiel sind die sogenannten Sommerküchen, die man in vielen Gegenden findet und die es in verschiedenen Ausprägungen gibt. Manchmal ist das ein einzelner Raum, in dem gekocht wird oder eine Kombination aus Sauna und Baderaum. Im Prinzip geht es um die Reduzierung auf die grundlegenden Funktionen im Innenraum. Der Rest findet dann draußen statt.
Wie haben Sie diese Erkenntnisse auf Ihr eigenes Wohnhaus übertragen?
Susanne Brorson: Das Haus hatte schon ein Reetdach, was für DDR-Typenhäuser ungewöhnlich ist. Aber nebenan liegt der Kleine Jasmunder Bodden mit einem breiten Schilfgürtel. Hier wurde schon immer Reet hergestellt. Vermutlich haben sich die früheren BesitzerInnen deshalb dafür entschieden, den Bau damit einzudecken. Diese Idee habe ich beim Umbau weiterentwickelt und mich an der traditionellen Architektur auf Rügen orientiert. Hier sind die Gebäude oft um Dreiseithöfe gruppiert, um Schutz vor Wind und Wetter zu bieten. Dazu habe ich das Wohnhaus mit dem angrenzenden Stall durch eine Mauer im Norden verbunden. So entsteht eine ähnliche Hofanlage wie bei einem traditionellen Dreiseithof mit einem Mikroklima. Zudem habe ich die Fensteröffnungen verändert und den Grundriss vereinfacht.
Wie haben Sie das Prinzip des saisonalen Wohnens integriert?
Susanne Brorson: Eine kürzlich hinzugekommene Ergänzung zum Wohnhaus ist das sogenannte Schwarz-Weiß-Haus. Es beinhaltet eine Sauna mit Gästezimmer im gedämmten Teil. Der ungedämmte Teil öffnet sich auf einer Seite komplett nach Draußen und dient als Sommerwohnzimmer. Das findet man in den alten Wohngrundrissen im Ostseeraum ganz oft, zum Beispiel in schwedischen Wohnhäusern. Mit meinen Studierenden habe ich außerdem eine temporäre Sommerküche aus Seegras im Rahmen eines Workshops gebaut. Das ist ein kleiner Pavillon, mit dem man im Freien kochen kann. So hat das meine Großmutter im Übrigen auch gemacht.
Mit den drei Dreiseithöfen haben Sie ein größeres Wohnprojekt umgesetzt. Inwieweit spielt das traditionelle Bauen hier eine Rolle?
Susanne Brorson: Die Wohnanlage befindet sich auf dem Gelände einer ehemaligen DDR-Agrargenossenschaft in unmittelbarer Nachbarschaft zu meinem eigenen Wohnhaus im Dorf Streu. Sie setzt sich aus neun Wohnhäusern mit zwei Gebäudetypologien zusammen: einem mittleren Haus und einem Seitenhaus, die als drei Dreiseithöfe angeordnet wurden. Das greift einerseits das traditionelle Bauen auf Rügen auf. Anderseits haben wir die genaue Anordnung mit Hilfe von Windsimulationen getestet. Ziel war es, ein kleinteiliges Ensemble mit Satteldächern zu formen, das sich vom Maßstab an das benachbarte Dorf anpasst. Gleichzeitig haben die einzelnen Wohnhäuser eine geflammte oder vorgegraute Holzfassade, was der Wohnanlage ein homogenes und modernes Erscheinungsbild verleiht. Das Ganze wurde von einem örtlichen Sägewerk in vorgefertigter Holzrahmenbauweise umgesetzt. Es gibt auch eine zentrale Gemeinschaftsküche, die sich komplett nach außen öffnen lässt und überdachte Außenräume, die für das saisonale Wohnen genutzt werden können.
Neben Ihrer Tätigkeit als Architektin forschen Sie auch über nachwachsende Rohstoffe und experimentieren damit. Können Sie mehr darüber erzählen?
Susanne Brorson: Während meiner Dissertation habe ich das Baltic Vernacular Experimental Laboratory gegründet. Das ist ein Lehrformat, das bislang an verschiedenen Hochschulen im Kontext des Ostseeraums gelaufen ist. Dort entstehen nicht nur experimentelle Entwürfe, sondern auch 1:1 Mockup-Modelle, um mit nachwachsenden Rohstoffen zu experimentieren. Während meines Stipendiums an der Villa Massimo in Rom habe ich den Saisonalen Salon mit Studierenden der Università degli studi di Roma Tre entwickelt. Dabei handelt es sich um einen Holzpavillon, der als Plattform für 1:1 Experimente mit verschiedenen Fassaden genutzt wurde. Das dafür verwendete Pflanzenmaterial haben wir vor Ort geerntet. Es stammt zum Teil aus dem Park der Villa Massimo. Wir haben diese Materialien untersucht, aber auch traditionell verarbeitet und uns die dafür notwendigen Handwerkstechniken vorab angeeignet. Solche Ansätze bieten eine gute Grundlage, um mit Werkstoffen und Bauweisen zu experimentieren und zu schauen, wie sie sich in den Entwurfsprozess integrieren lassen.
Sie nutzen auch Ihr eigenes Wohnhaus als Experimentierfeld für nachwachsende Rohstoffe.
Susanne Brorson: Ja, eines dieser 1:1 Experimente ist das Seasonal Wall Dressing. Im Rahmen dieses seit 2021 laufenden Experiments wird saisonal im Spätsommer ein etwa sechs bis sieben Zentimeter dickes Fassadenkleid aus biogenen Materialien für den Westgiebel des Hauses hergestellt. Das verwendete Material dient als Wetterschale und hat Dämmeffekte, weil es den Auskühlungseffekt durch den Wind mindert. Als fortlaufendes Designbuild-Projekt experimentiere ich immer wieder mit verschiedenen Materialien, die auf einem großen Holzrahmen aufgebracht werden. Er funktioniert ähnlich wie ein modulares Fassadensystem. Das Ganze ist wie ein großer Webrahmen mit gespannten Drähten konstruiert, in den die unterschiedlichen Materialien hineingeflochten werden. Nach einem Jahr in der Nutzung schauen wir, was funktioniert hat und was nicht. Durch die konkrete Anwendung werden die traditionellen Lösungen nachvollziehbar.
Welche Materialen kommen beim Seasonal Wall Dressing zum Einsatz?
Susanne Brorson: Das sind unter anderem nachwachsende Rohstoffe wie Reet, Seegras, Seggengräser, Wacholder, Farn und Heidekraut. Seegras wurde auf den dänischen Inseln oder in Estland traditionell als Dachdeckung eingesetzt. Auf Rügen gibt es das Material in rauen Mengen. Momentan räumen die Gemeinden es von den Stränden weg und bauen Hallen, um es dort als Sondermüll zu entsorgen. Stattdessen könnte man es als kostengünstiges Baumaterial verwenden. Laut einer Studie der Universität Aalborg über einjährig schnell nachwachsende Rohstoffe wie Gras und Hanf könnte man 50 Prozent der mineralischen Baustoffe durch biogene Materialien ersetzen. Leider ist die Baustoffindustrie an dem Thema nicht besonders interessiert.
Wie ließe sich das ändern?
Susanne Brorson: Indem man lokale Systeme aufbaut und nachhaltige Kreisläufe erzeugt. Ein Großteil der Bevölkerung lebt im ländlichen Raum. Wenn man sich mit nachwachsenden Baustoffen beschäftigt, rückt das Thema Landschaft in den Mittelpunkt. Da liegt es nahe, sich damit zu beschäftigen, wie früher damit gebaut wurde. Ein Einstieg könnten zum Beispiel die Handwerker vor Ort sein, die das Material verarbeiten. In meiner Nachbarschaft gibt es einen jungen Reetdachdecker, der sich sehr für Palludikulturen interessiert. Gleichzeitig führt das Greifswald Moor Centrum verschiedene Projekte zur Moorvernässung durch. Damit lässt sich nicht nur CO2 binden, sondern auch Reet anbauen, das dann lokal von Reetdachdeckern verarbeitet werden kann. So wird die lokale Landschaft zur Quelle des Materials, das dann nicht aus Polen, Litauen oder Rumänien importiert werden muss. Damit lassen sich regionale Wertschöpfungsketten erzeugen, die ein nachhaltigeres Bauen ermöglichen.
Liegt die Zukunft des Bauens demnach in der Wiederentdeckung der Tradition?
Susanne Brorson: Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, desto mehr merke ich, dass es das Traditionelle in dem Sinne nicht gibt. Traditionen sind eigentlich Prozesse. Irgendwann hat man angefangen und sich dann Stück für Stück vorangetastet. Das war im Grunde genommen ein experimenteller Ansatz, bei dem fortlaufend neues Wissen generiert wurde. Man könnte also sagen, dass traditionelles Bauen ziemlich experimentell ist.