Frei gestalten
Anna Moldenhauer: Du addierst der Alltagswelt einen surrealen Faktor hinzu, der überrascht und Freude macht. Damit schaffst du einen Dialog mit Objekten, die wir sonst als selbstverständlich übersehen, wie kürzlich "A week at the knees" auf dem Charterhouse Square in London. Warum reizt es dich, einen Bruch in unseren Sehgewohnheiten der Stadt zu erzeugen?
Alex Chinneck: Surrealismus hat eine starke Wirkung, weil er das Vertraute spielerisch durcheinanderbringt. Das gilt besonders für Arbeiten im öffentlichen Raum, wo man ohnehin schon viel Kontrolle abgibt. Vertrautheit als eine Art Plattform zu nutzen, auf der man aufbauen kann, ist ein leicht zugänglicher Mechanismus. Das verleiht der Arbeit eine unmittelbare Persönlichkeit, die viele Menschen unabhängig von ihrem Alter oder ihrem Vorwissen verstehen und interpretieren können. Du arbeitest mit Materialien, Objekten, Strukturen und der Umgebung der Alltagswelt. Und das in einem öffentlichen Kontext. Es hat auch etwas Optimistisches, Dingen, die sonst als banal empfunden werden, eine gewisse Fantasie und Magie zu verleihen. Es ist so wichtig, sich von Zeit zu Zeit von der Realität ablenken zu können. Ich glaube, dass die schönste Illusion ein Gefühl der Leichtigkeit erzeugt, deshalb möchte ich meine Arbeiten nicht mit zu vielen Bedeutungen belasten, auch wenn hinter den Kulissen viel über Technik und Kontext nachgedacht wird. Zugänglichkeit ist mir wichtig, auch wenn damit das Risiko einhergeht, dass die Arbeiten als zu vereinfacht wahrgenommen werden.
Deine Arbeiten umfassen viele architektonische Illusionen, von 312 identisch zerschlagenen Fenstern bis zu rutschenden oder sich öffnende Fassaden. Du hast nach deinem Kunststudium unter anderem Architekturbüros und Fertigungsbetriebe in Großbritannien besucht, um dir ein Wissen über Material und Konstruktion anzueignen. Was war für dich eine zentrale Erkenntnis?
Alex Chinneck: Ich würde sagen, dass ich viele verschiedene Branchen erkundet habe. Am besten lernt man etwas über Fertigung, indem man selbst etwas herstellt, und diese Möglichkeit hat man in Architekturbüros nicht oft. Durch neue Begegnungen und den Umgang mit neuen Verfahren konnte ich ein umfassendes Verständnis für Materialien und ihre technischen Möglichkeiten entwickeln. Ich habe eigentlich mit Malerei angefangen, bis mir klar wurde, dass ich diesem Bereich nichts Neues hinzufügen konnte. Stattdessen hat mir immer gefallen, wie Skulpturen durch neue technische und materielle Möglichkeiten weiterentwickelt werden können. Außerdem wollte ich sehen, wie die britische Industrie mit der Kunst zusammenarbeitet. Glücklicherweise waren viele Unternehmen, die sich auf einen bestimmten Prozess spezialisiert haben, begeistert von einer neuen Herausforderung und erkannten das Marketingpotenzial, das diese ungewöhnliche Zusammenarbeit ihnen bot. Die Industrie hat mir Möglichkeiten eröffnet, meine ambitionierten Ideen zu verwirklichen. Durch diese Verbindung erhielten die Werke sofort das Potenzial, architektonische Dimensionen zu erreichen. Seit meiner Zeit an der Kunsthochschule bin ich der Überzeugung, dass meine Arbeit nicht durch mein technisches Know-how, meine Fähigkeiten und die Größe des Raums, in dem ich arbeite, begrenzt sein sollte. Meiner Meinung nach ist dies für die kreative Freiheit unerlässlich. Je mehr kreative Freiheit man hat, desto mehr kann man seiner Fantasie freien Lauf lassen. Mir gefällt die Idee, dass durch die Zusammenarbeit, insbesondere mit Menschen, die in der Lage sind, bedeutende skulpturale Ambitionen mit mir zu verwirklichen, beeindruckendere und weitreichendere Ideen entstehen und physisch umgesetzt werden können.
Das Skelett von "A week at the knees", besteht aus 300 Metern gerolltem Stahl, das mit einer flexiblen Haut aus Edelstahl verkleidet ist. Darauf sind über 7.000 Ziegelsteinfassaden geklebt, die mit Kalk verfugt wurden. Die Skulptur ist 13 Meter lang und wiegt 11,5 Tonnen, ist aber nur 15 Zentimeter dick. Mit Blick auf die Planung und Realisierung dieser komplexen Konstruktionen – wie gehst du bei deinen Projekten vor?
Alex Chinneck: Im Laufe der Jahre konnte ich mir ein umfangreiches Materialarchiv aufbauen und Fachwissen in verschiedenen industriellen Prozessen erwerben. Dennoch ist jeder Ort, jede Einladung und jeder Standort anders. Ich mag die Vielfalt der unterschiedlichen Kontexte, in denen ich arbeite. Deshalb arbeite ich so gerne im öffentlichen Raum. Jeder neue Ort bringt neue Möglichkeiten und Herausforderungen mit sich. In den meisten Fällen beginne ich mit einer Skizze, einer Kombination aus kreativen Ideen und einer kontextbezogenen Reaktion auf den Ort. Der Entwurf für den Charterhouse Square nimmt Bezug auf die rote Backsteinarchitektur im georgianischen Stil, die den Platz umgibt. Außerdem wollte ich wieder die gebogenen Ziegel verwenden, mit denen ich bereits bei diesem Projekt gearbeitet hatte. Nach der Skizze folgt die digitale Modellierung und Verfeinerung der Form und Größe, um zu verstehen, welche strukturellen Aspekte für mich wichtig sind. In diesem Fall bestand die Herausforderung darin, die Bögen so dünn wie möglich zu gestalten, um einen Kontrast zu der großen und schweren Wirkung zu schaffen. Wir arbeiten seit 12 Jahren mit unseren Statikern zusammen, sodass sie sehr gut verstehen, was wir strukturell erreichen wollen. Ich mag die Vielfalt der Kontexte, in denen ich im öffentlichen Raum arbeiten kann. Als Künstler ist es mir ein großes Anliegen, nichts zu schaffen, was es bereits gibt und daher keine visuelle Identität und keine einzigartige Stimme hat. Deshalb nutze ich Ambition, Komplexität und Risiko als Werkzeuge, um mit meiner Arbeit hoffentlich einen einzigartigen Beitrag zu leisten.
Deine Arbeiten im öffentlichen Raum sind ein Spektakel, haben keine Schwelle, sie machen Freude, aber sind in ihrer Erstellung auch komplex und haben immer einen Bezug zum Ort, an dem sie präsentiert werden. Eine metaphysische Tiefe wurde dir hingegen seitens der Kunstkritik bislang oft abgesprochen. Deshalb würde ich dich gerne fragen, wie du dich selbst in den Disziplinen positionierst. Stellst du dich selbst in eine Schublade oder stehst du in vielen Schubladen gleichzeitig?
Alex Chinneck: Das ist eine sehr gute Frage. Hin und wieder habe ich das Gefühl, zwischen den Disziplinen zu fallen. Kunst, Architektur, Design, Street Art – jede Disziplin hat ihr Publikum, ihre Kritiker, ihre Referenzgruppe und so weiter. Ich gehöre nirgendwo wirklich hin, weil meine Arbeit interdisziplinär ist. Das hat auch seine positiven Seiten, denn so bin ich flexibel in Bezug auf Materialien, Prozesse und Orte. Die kurze Antwort lautet: Ich sehe mich als Künstler. Ich arbeite sehr ideenorientiert und bin bei der technischen Umsetzung in vielen Bereichen tätig, vom Projektmanager über den Bildhauer bis hin zum Designer. Ich gehe meine Kunst wie ein Designer an, weil der Kontext, die Materialien, die Mitwirkenden und die Prozesse multidisziplinär sind. Ich verwende beispielsweise Dinge, die typischerweise mit Design, Industriedesign oder Architektur in Verbindung gebracht werden. Letztendlich sind dies jedoch nur Werkzeuge, die mir helfen, ambitionierte künstlerische Ideen zu verwirklichen. Manchmal bewege ich mich in einem Bereich, der eher design- oder architekturorientiert ist und in dem die Funktion eine größere Rolle spielt. Gleichzeitig genieße ich die Freiheit und die Tatsache, dass Kunst keine physische Funktion erfüllen muss, und ich mag es, dass sie kommerziell nicht so gut funktioniert. Die Budgets in der Kunst sind bei weitem nicht so hoch wie in der Architektur, aber ich mag die kreative und skulpturale Freiheit, die mir die Kunst bietet. Ich kann mit einem Kunstmuseum zusammenarbeiten, aber auch Werke für das London Design Festival, die Clerkenwell Design Week oder die Milan Design Week schaffen. Das Schöne an diesen Einladungen ist, dass es sich um Veranstaltungen und Festivals handelt, deren Publikum normalerweise dem Design und der Architektur vorbehalten ist. Es ist fantastisch, dass ich als Künstler in diese Welten eingeladen werde. Es gibt also viele Vorteile.
Der Nachteil ist jedoch, wie ich bereits erwähnt habe, dass ich mich keiner bestimmten Welt zugehörig fühle. Dadurch entgeht mir möglicherweise ein gewisses Maß an Anerkennung oder kritischem Beifall. Ich könnte meine Arbeit mit konzeptueller Sprache überfrachten und enorm viel Zeit damit verbringen, ihre Botschaft und Bedeutung zu artikulieren. Das habe ich immer abgelehnt, weil ich es für unnötig hielt. Auch wenn sie keine tiefgründigen konzeptuellen Botschaften enthalten, sind sie nicht frei von bedeutungsvollen Reflexionen darüber, was wir tun, warum wir es tun, wie wir es tun und für wen wir es tun. Populäre, zugängliche Kunst ist schwierig. In meiner Arbeit gibt es eine feine Grenze zwischen öffentlicher Skulptur und Stunts, und ich muss darauf achten, dass es Skulptur bleibt. Die Kunstwelt legt in letzter Zeit mehr Wert auf Zugänglichkeit, auch weil Institutionen hohe Besucherzahlen und Einnahmen anstreben. Ich habe mich immer für diese Idee der Zugänglichkeit eingesetzt und finde sie in der Kunst gut. Einige KunstkritikerInnen stehen jedoch Werken, die eher verspielt, populär und zugänglich sind als hochkonzeptionell, ablehnend gegenüber. Und so stoßen meine Ideen auch nach 20 Jahren noch immer von Zeit zu Zeit auf eine Mauer. Ich finde diese Denkweise prätentiös und überholt. Ich habe keine Ahnung, wie viele Projekte man realisieren muss, bevor man in diesem Bereich der Branche akzeptiert wird. Nach einer Weile hört man auf, sich darüber Gedanken zu machen, und folgt einfach dem, was einen glücklich macht. Kreative Menschen sind am besten, wenn sie das tun, was sie wollen. Ihre Arbeit ist schwächer und kompromissbehafteter, wenn sie das tun, was sie für richtig halten. Multidisziplinär zu arbeiten und nirgendwo wirklich dazuzugehören, hat Vorteile für die kreative Entwicklung.
Aus meiner Perspektive ist es wichtig, dem System einen neuen Aspekt hinzuzufügen, um eine gewisse Disruption zu erzeugen, aus der langfristig neue Wege entstehen können. Viele der heute geschätzten GestalterInnen haben Arbeiten entwickelt, die zu ihrer Zeit jeweils außergewöhnlich waren und eine neue Sprache hatten.
Alex Chinneck: Mir gefällt die Vorstellung, dass ein Werk seine eigene Stimme hat, anstatt sich in etwas bereits Vorhandenes einzufügen. Das ist mein Ziel. Ich mag es, wenn die Leute meine Werke betrachten und nicht sagen: "Oh, das ist eine Skulptur" oder "Das ist ein Design" oder "Das ist ein architektonisches Werk". Stattdessen sagen sie: "Oh, das ist ein Chinneck." Ich habe das Gefühl, dass ich einen multidisziplinären Cocktail kreieren muss, um Werke zu schaffen, die einzigartig sind. Anstatt mich an die Kunst und die Orte, an denen Kunst ausgestellt wird, und die Art und Weise, wie Menschen über Kunst sprechen und denken, zu halten, habe ich einfach das Gefühl, dass ich mit diesen vorgefertigten Zutaten nichts auch nur annähernd Originelles schaffen könnte. Ich hatte das Gefühl, dass ich Zutaten aus vielen verschiedenen Bereichen – Theater, Industrie, Fertigung, Design, Architektur, Bildhauerei – ausleihen und hoffentlich zu einer originellen Manifestation verschmelzen musste.
Inwiefern haben die Arbeiten von David Lynch dich inspiriert?
Alex Chinneck: Er hat die Idee des typischen Amerikas zum Leben erweckt. Seine Verschmelzung von Fantasie und Realität zu einer dunklen Kraft ist so nahtlos, dass sie vertraut wirkt. Durch die Musik, die Darsteller und seine Inszenierung schuf er eine Art behaglichen Raum und nahm uns dann mit auf eine höchst obskure Reise. Er war unglaublich mutig, authentisch, ehrgeizig und risikofreudig. Er war sich seines Publikums bewusst, ließ sich aber nicht davon leiten. Ich glaube, er war einfach von der Kunst, von seiner Arbeit getrieben. Er hat früh erkannt, dass man das tun muss, was man tun will, und nicht das, was man tun soll. Das hat ihn befreit. Er strebte nach kreativer Freiheit, sowohl in der Malerei als auch im Film. Er ist ein außergewöhnliches Beispiel dafür, denn sein Weg vermittelt Selbstvertrauen und Furchtlosigkeit. Diese exquisite Verwischung von Realität und Fantasie ist einfach unglaublich. Das ist zumindest meine Interpretation von David Lynch. Er nimmt mich immer mit auf eine fantastische Reise mit Elementen, die man nicht kommen sieht.
Du bist interessiert, deine Praxis auch auf neue Disziplinen auszuweiten – wie auf die Architektur oder Malerei. Wie ist da der aktuelle Stand?
Alex Chinneck: Im kommenden Jahr möchte ich mich auf Skulpturen konzentrieren. Außerdem möchte ich einen größeren Schritt in Richtung Möbeldesign und Architektur setzen. Dafür brauche ich die richtigen PartnerInnen. Wir haben zum Beispiel Doppelzimmer-Pods entworfen, die im Wesentlichen aus Ziegelsteinskulpturen bestehen. Sie sind sowohl funktional als auch skulptural. Ich möchte mehr 2D-Arbeiten entwerfen, wie Wandcollagen. Die verknoteten Laternenpfähle gehen bereits in diese Richtung: Sie sind öffentliche Kunst im Sinne von Stadtgestaltung. Es gibt immer einen Bedarf an öffentlicher Kunst, aber oft steht sie ganz unten auf der Budgetliste. Mir gefällt sehr, dass diese Arbeiten sehr skulptural sind, aber gleichzeitig verspielt und funktional. Das ist ein Bereich, den ich besser verstehen möchte. Aber immer mit der Freiheit und Verspieltheit, die meine Skulpturen auszeichnen.