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Ursulina Schüler-Witte mit Ralf Schüler

Blickpunkt: Architektinnen – Ursulina Schüler-Witte

In unserer Serie "Blickpunkt: Architektinnen" stellen wir in regelmäßiger Folge das Werk von Architektinnen vor – wie das einer großen Protagonistin des bundesdeutschen Futurismus: die gebürtige Berlinerin Ursulina Schüler-Witte, die die Architektur der deutschen Hauptstadt gemeinsam mit ihrem Mann um ikonische Gebäude bereicherte.
von David Kasparek | 02.08.2022

Es gibt diese schöne alte Schwarzweißfotografie von Ursulina Witte: Die junge Architektin mit dunklem Pagenkopf ist elegant gekleidet, sie trägt ein dunkles, ärmelloses Oberteil zu einem hellen Bundfaltenrock und hellen Sommerschuhen. Auf dem Hocker neben ihr liegt eine dunkle Handtasche, hinter ihr Skizzenrollen, an der Wand hängen Architekturzeichnungen, die Flügel des Kastenfensters sind leicht geöffnet, draußen helles Licht. Es ist Sommer. Ursulina Witte sitzt nach vorne gebeugt und macht sich Notizen, vor ihr der um etwa 45 Grad geneigte Zeichentisch, auf den ein großformatiger Plan aufgespannt ist. Die junge Frau scheint ganz in ihre Arbeit vertieft, konzentriert und bei sich. Das Bild entstand 1963 im Büro des Architekten Bernhard Hermkes, für den Witte ab 1961 arbeitete. Zuvor hatte sie ihr 1953 an der TU Berlin aufgenommenes Architekturstudium 1960 mit dem Diplom abgeschlossen – ebenfalls bei Hermkes. Schon während des Studiums lernte sie ihren späteren Ehemann und Büropartner kennen: Ralf Schüler. Auch er ein gebürtiger Berliner, auch er arbeitete ab 1967 für Bernhard Hermkes. Schüler, gelernter Elektromechaniker, brach sein Studium jedoch während der Mitarbeit bei Hermkes ab – er hielt sich durch die Arbeit im Büro für vollständig ausgebildet. In dieser Zeit bearbeiteten die beiden unter anderem den heute nach ihrem damaligen Chef benannten Bau der Architekturfakultät der TU Berlin (1961–1963) am Ernst-Reuter-Platz, Ralf Schüler gar als Bauleiter.

Immer wieder ziehen die Architektin und ihr Lebenspartner dabei den Ärger des Chefs auf sich, etwa, als sie ihn telefonisch bittet, den Jahresurlaub um drei Tage zu verlängern. Ursulina und Ralf brauchten noch ein wenig Zeit, um die Wettbewerbszeichnungen "für die Erweiterung der Berliner Ausstellungen und den Bau einer neuen Kongresshalle für 4.500 Personen" fertigzustellen. In einem 2015 im Lukas-Verlag publizierten Buch, schildert Ursulina Schüler-Witte, wie sie seit der Hochzeit mit Ralf 1967 hieß, wie Hermkes daraufhin verärgert den Hörer auf die Gabel warf. Es waren andere Zeiten: Telefone hatten noch Hörer und Gabel, Hochzeiten wurden erst gehalten, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse gesichert waren. Und obschon der genannte Wettbewerb noch nicht den Weg in die Selbständigkeit ebnete, glaubten Ursulina und Ralf weiter an ihr Können.

U-Bahnhof Schloßstraße Berlin Steglitz

1964 nahmen sie am Wettbewerb für die Gestaltung des U-Bahnhofs Blissestraße teil. Hermkes aber war Mitglied der Jury, sodass der Beitrag von Ursulina Witte und Ralf Schüler vom Wettbewerb ausgeschlossen, erstaunlicherweise aber dennoch zur Bewertung hinzugezogen wurde. Wie sich später zeigen sollte: ein Dilemma. Wurde doch der Entwurf von Schüler/Witte als bester bewertet, was den Wettbewerb ergebnislos enden ließ. Die Aufmerksamkeit aber, die die beiden so gewinnen konnten, führt in der Folge zur direkten Beauftragung mit der Gestaltung des U-Bahnhofs Schloßstraße in Berlin Steglitz. Der Selbständigkeit stand damit ebenso wenig etwas im Wege wie der Heirat.

Mit dem Entwurf des U-Bahnhofs beauftragt, erweiterten Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler das Entwurfsgebiet kurzerhand um die seinerzeit ebenfalls in unmittelbarer Nähe anstehende Aufgabe der Anbindung der A 104 an das Steglitzer Kreuz. Ohne Aufforderung entstand so der Entwurf für einen vielschichtigen Verkehrsknotenpunkt, der durch Kopfbauten und eine monolithische Skulptur oberhalb der U-Bahnhaltestelle betont wurde. Da die Gelder für den so erweiterten Entwurf jedoch fehlten, änderten die beiden das Konzept erneut. Übrig blieb ein Turm mit drei vom Boden abgehobenen Geschossen, den die junge Architektin und ihr Mann privaten Investoren zur Umsetzung vorschlugen. Die Irrungen und Wirrungen der Westberliner Immobilienszene zwischen Spekulation und tatsächlichem Bau in den 1960er- und -1970er-Jahren sind legendär – speziell in Steglitz –, sodass auch dieses Projekt immer wieder auf der Kippe stand und zwischenzeitlich gar gestoppt wurde. 1976 aber konnte der Turm, dessen obere Geschosse durch einen Gastronomen genutzt wurden und knallrot gestrichen waren, mit seinem grauen Schaft doch noch eröffnet werden. Rasch hatte das Gebäude seinen Spitznamen: Bierpinsel. Inzwischen, durch eine obskure Bemalung verschandelt, hat sich das Haus doch zu jenem Signe entwickelt, als das es einst erdacht wurde.

Internationales Congress Centrum ICC Berlin

Die hier erprobte Formensprache konnten Ursulina Schüler-Witte und ihr Mann in der gleichen Zeit in deutlich größeren Dimensionen überprüfen. Nördlich der legendären Spitzkehre der AVUS und vis-a-vis des Funkturms entstand bis 1979 das Internationale Congress Centrum, kurz ICC. Ein Bau der Superlative: 313 Meter lang, 89 Meter breit und fast 40 Meter hoch, im Innern 80 Säle und Räume von klein bis riesig. Je nach Größe finden hier 20 bis zu 9.100 Menschen Platz. Obschon seit 2014 geschlossen, hat der Bau einen festen Platz in der bundesdeutschen Architekturgeschichte und sich zu einer Art Instagram-Liebling gemausert. Zurecht wird er in einem Atemzug mit anderen Gebäuden technoider Formensprache dieser Zeit genannt: Richard Rogers Lloyd’s Building in London (1978–1986) oder dem Centre Pompidou, das Rogers gemeinsam mit Renzo Piano in Paris realisierte (1971–1979).

Nach dem Tod ihres Mannes 2011 kämpfte Ursulina Schüler-Witte fortwährend und ausdauernd für den Erhalt dieses silbrig-grau schimmernden Raumschiffs, das den Eingang in die Stadt von der Autobahn mindestens ebenso prägte wie der benachbarte Funkturm, mit dem es seit seiner Fertigstellung ein kongeniales Stadt-Entree bildet. Uneitel ging es Schüler-Witte dabei nie um den eigenen Namen, sondern um vernunftgesteuerte und rationale Argumente, wie sie es unter anderem während einer Führung durch das Haus im Rahmenprogramm des BDA-Tags 2015 in Berlin klarmachte. Immer wieder gab es Ideen und Konzepte zur Weiternutzung. Vom Creative Hub bis zur Unterkunft für Geflüchtete. 2021 aber teilte der damalige Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) mit, dass die Gelder für die Weiterentwicklung des ICC in Gänze gestrichen würden. Im Gespräch mit der Berliner Morgenpost bekannte Ursulina Schüler-Witte: "Es ist eine Schande für Berlin, dass das ICC weiterhin nicht genutzt wird." Empört legte sie dar, dass "die Schuld an dem Leerstand (…) nicht am Gebäude mit all seinen Möglichkeiten" liege, sondern "bei den politisch Verantwortlichen, die sich nicht rühren." Der Bau blieb das einzige Gebäude dieser Größenordnung für das Architektenpaar und mithin ihr Hauptwerk. Entsprechend widmete Ursulina Schüler-Witte ihm in dem schon erwähnten Buch "Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte. Eine werkorientierte Biographie der Architekten des ICC" 72 der 227 Seiten.

Entwurf Freizeit-Center Farahnaz-Region
Entwurf Kongresszentrum Abu Dhabi

Dass das Werk der beiden mehr umfasst als nur das ICC wurde spätestens klar, als Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler im Oktober 2010 ihren Vorlass der Berlinischen Galerie übergaben. Ein Teil davon ist inzwischen digitalisiert und einsehbar. Hier, wie im Buch von 2015, finden sich rund 250 Entwürfe, von denen nur ein Bruchteil realisiert wurde. Ein Blick auf dieses Werk macht klar, dass der Horizont der beiden nie im Märkischen Sand ihrer Berliner Heimat endete. Der Entwurf für das Freizeit-Center "Farahnaz-Region" wurde zwischen 1974 bis 1976 beispielsweise für den Iran entwickelt, 1981 bis 1983 entstand der Entwurf für ein Kongresszentrum für Abu Dhabi. Beiden kamen über den Projekt-Status nie hinaus.

Wohnanlage "Die Augsburg" Berlin
Rathaus Berlin-Hellersdorf mit Ausstellungszentrum "Pyramide"

Realisiert dagegen wurden das Denkmal für Rosa Luxemburg und die Gedenksäule für Karl Liebknecht (1986–1987) an der Lichtensteinbrücke am Landwehrkanal in Berlin Tiergarten. Im Laufe der Zeit entstanden zudem die Wohnanlage "Die Augsburg" an der Augsburger Straße in Berlin-Schöneberg (1979–1991), die Erweiterung des Kriminalgerichts Moabit (1987–1991) und die Schwesternwohnungen des Virchow-Klinikums im Wedding (1989–1993). Nach der Wende kamen noch das Bürodienstgebäude des Rathauses Berlin-Hellersdorf (1991–1998) dazu, das um das kommunale Ausstellungszentrum "Pyramide" (1994) an der Ecke Riesaer und Jenaer Straße ergänzt werden konnte, sowie die Kuppel über der U-Bahnstation Nollendorfplatz (2002). Wie erst Mitte Juli durch eine Traueranzeige der Berlinischen Galerie bekannt wurde, verstarb Ursulina Schüler-Witte bereits im Mai dieses Jahres. Ihren Mann überlebte die Architektin um elf Jahre. Die Bauten der beiden, darunter zwei echte Berliner Ikonen, werden bleiben.

BUCHTIPP: 



Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte. Eine werkorientierte Biographie der Architekten des ICC


Ursulina Schüler-Witte
Festeinband, 227 Seiten
Lukas Verlag, 2015
ISBN: 978-3-86732-212-6
30 Euro