Sommerzeit, na klar: Reisezeit. Heraus mit der Liste der unerledigten Orte! Auf dieser Liste landen bei mir alle Orte oder Städte, die mir irgendwann in den verschiedensten Zusammenhängen einmal als „besonders“ oder „spannend“ aufgefallen sind – und an denen ich noch nie war. Das kann man sich in etwa so vorstellen wie Judith Schalanskys „Atlas der abgelegenen Inseln“ (Mare Verlag, 2010), in dem sie fünfzig sehr einsame Inseln versammelte, „auf denen ich nie war und niemals sein werde“. In seiner Rezension fand Kollege Thomas Wagner dieses Buch „das ideale Instrument, um sich auf eine, auf zwei, ja auf viele Inseln zu wünschen“ (› zum Artikel). Meine Liste ist da vielleicht ganz ähnlich, zumal sie schon seit einiger Zeit jedes Jahr länger wird, weil stets mehr Orte hinzugefügt werden als ich streichen kann. Ich bin einfach nicht der systematische Weltenbummler, der die Länder dieser Erde alphabetisch oder geographisch gut sortiert nacheinander abreist.
Dafür lese ich viel über die Orte auf meiner Liste, denn es sind ja meist die Geschichten, die mich daran faszinieren. Zum Beispiel die Geschichte der mehrspurigen Autobahn, die Tito gerne als „Autobahn der Einheit und der Brüderlichkeit“ (autoput bratstva i jedinstva) von Österreich bis Griechenland quer durch Jugoslawien gebaut hätte. Mit Unterstützung der Armee wurde der erste Abschnitt zwischen Belgrad und Zagreb gebaut, dann halfen 1958 angeblich über 54.000 Freiwillige, in acht Monaten den Abschnitt zwischen Ljubljana und Zagreb zu bauen. Danach versiegte die Begeisterung, die Autobahn wurde letztlich nie ganz fertig und in den Jugoslawienkriegen nach 1991 an vielen Stellen zerstört. Welche Spuren würden sich heute auf dieser Strecke von Ljubljana über Zagreb nach Belgrad, Priština und Skopje finden lassen?
Drei Reportagen von Peter Sägesser und Daniel von Bernstorff haben meiner Begeisterung, diese Strecke einmal zu bereisen, weitere Nahrung gegeben: 2011 berichtete Sägesser von der 1956 gebauten internationalen Messe in Zagreb, die ans Flussufer der Save verlegt worden war, um den neuen, komplett nach den Prinzipien der Charta von Athen errichteten Stadtteil „Novi Zagreb“ zu beleben (› zum Artikel). Seine Fotografien der verbliebenen Pavillons auf dem leicht verwilderten Gelände bedienen meine Sehnsucht nach Reisen, nach brutalistischer Ostmoderne und nach Ruinenpornos gleichermaßen. Ähnlich verhält es sich mit Daniel von Bernstorffs Bericht von der Belgrad Design Week des Jahres 2009, in der er Belgrad als „rau und unwirtlich“ beschreibt, als „zerklüftet und verbaut, noch dazu bisher ohne funktionierendes Nahverkehrssystem (› zum Artikel).
Vielleicht bin ich nur ein urbaner Nerd, der schon zu lange in Berlin festsitzt, aber genau solche Beschreibungen reizen mich. Mein Interesse für Skopje muss ich daher wohl nicht weiter begründen, dessen Wiederaufbau nach dem verheerenden Erdbeben von 1963 auf Grundlage eines städtebaulichen Masterplans des japanischen Metabolisten Kenzo Tange organisiert wurde. Peter Sägessers fachkundige Erzählung aus dem Jahr 2013 von den Resten und Fragmenten dieses radikal modernen, natürlich nur teilweise umgesetzten Wiederaufbaus erinnerte mich wieder an mein eigenes, nur teilweise umgesetztes Vorhaben – denn inzwischen hatte ich wenigstens Kroatien und Slowenien bereist, mich aber nicht weiter ins ex-jugoslawische Kernland vorgearbeitet (› zum Artikel).
Während ich mich mit Jugoslawiens „Lost Highway“ schon lange beschäftige, sind andere Orte nur aufgrund einzelner Berichte auf meiner Liste gelandet. Etwa die Oase Tozeur, deren reich ornamentierte Lehmziegelarchitektur aus dem 14. Jahrhundert Nancy Jehmlich 2010 als „Ornament mit Funktion“ beschrieben hat. (› zum Artikel) Gut für meine Liste: So unerreichbar wie der Name klingt, ist die Oase in Tunesiens Südwesten nicht. Natürlich könnte ich auf einem Kamel hin reiten. Alternativ bietet Tunisair aber dreimal die Woche einen einstündigen Direktflug von Tunis an.
Andere Einträge auf meiner „Liste der unerledigten Orte“ sind weit weniger originell, und prinzipiell auch leicht erreichbar. Man muss es nur machen. Zum Beispiel nach New York oder Tokio fliegen. Was die beiden verbindet? Dass sie sicher zu den fundamentalsten Stadtgebilden und -erfahrungen unserer Zeit gehören, und dass ich sie noch nicht gesehen habe. Ebenso wie Detroit: die nordamerikanische Parade-Stadt postindustrieller Schrumpfung steht ziemlich weit oben auf meiner unsortierten Liste. Unter anderem auch durch Reportagen wie jene von Nora Sobich, die 2009 in einem zweiteiligen Artikel Detroit als morbid-schöne „Ruine des automobilen Zeitalters“ porträtiert hat (› zum Artikel) und 2011 mit „Hoffnung aus der Heidelberg Street“ zurückkehrte (› zum Artikel), um die ersten, keimenden Stadterneuerungsprojekte von unten einzufangen. Fünf Jahre ist das nun her. Nachzuschauen, was aus diesen Projekten geworden ist, wäre sicher ein weiterer guter Grund um nach Detroit zu reisen - dann ließen sich auch die These und aberwitzigen Entwürfe für Detroit vor Ort überprüfen, die dieses Jahr im Pavillon der Vereinigten Staaten auf der Architekturbiennale von Venedig gezeigt wurden.
Andere Orte, die ich auf meine Liste hätte aufnehmen können, weisen ein zusätzliches Problem auf, nämlich das ich dafür nicht nur durch den Raum sondern auch durch die Zeit reisen müsste.
Dieses Jahr werde ich allerdings keinen der vielen Einträge auf meiner Liste der unerledigten Orte abhaken können. Stattdessen liegen Bayern, Südfrankreich, Barcelona und Lissabon auf meiner diesjährigen Sommerroute. Alles Orte, an denen ich schon war, teilweise mehrfach, die mir aber so ans Herz gewachsen sind, dass ich mich schon sehr freue, sie wiederzusehen. Wenn die Liste also auch dieses Jahr wieder länger wird, werde ich mich deswegen nicht grämen.
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