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Guglielmo Poletti

Präzisionsarbeit

Die Werke von Guglielmo Poletti schaffen Balance zwischen Ästhetik und Konstruktion. Im Interview erklärt der Designer, wie er den schmalen Grat beschreitet und gibt Einblick in die neue Tischkollektion "L45" für Desalto.
von Anna Moldenhauer | 08.07.2020

Anna Moldenhauer: Guglielmo, nach dem Erststudium in Mailand hast du an der Designakademie in Eindhoven einen Master in Contextual Design absolviert. Wie hat dich die Ausbildung dort beeinflusst?

Guglielmo Poletti: Mein MA-Studium war der wichtigste Schritt meiner Karriere – ein zweijähriger Spielplatz, der es mir ermöglichte, viele Richtungen zu erkunden, um schließlich meine eigene zu finden. Anstatt einem vorgefassten Regelwerk zu folgen, werden die Studenten am DAE aus ihrer Komfortzone herausgedrängt und zum Experimentieren aufgefordert. Das fiel mir anfangs schwer, aber ich habe nach und nach die Vorteile schätzen gelernt in die Intuition zu vertrauen und meine Vision um sie herum geformt. Das führte zu meinem Abschlussprojekt, der Equilibrium-Reihe, die viele der Kriterien umfasst, die meiner Arbeit heute immer noch zugrunde liegen. Ich versuche mich nicht auf ein formales Vokabular zu beschränken, mit dem man bereits vertraut ist.

Kannst du diesen Prozess näher erläutern?

Guglielmo Poletti: Die Art und Weise wie ich mit Materialien umgehe, hängt mit Merkmalen meiner Persönlichkeit zusammen. Das hat mir während meines Studiums in den Niederlanden zu schaffen gemacht. Das Ziel dort ist es, mit einem leeren Blatt zu beginnen. Dieses Nachsetzen war schwierig, aber letztendlich war es das, was ich brauchte. Es diente als Destillationsprozess, an dessen Ende das, was übrigblieb, authentisch war, da es durch die Filterung des ständigen Hinterfragens gegangen ist. In Eindhoven habe ich auch gelernt, dass man sich nicht auf Themen verlassen sollte, die man bereits beherrscht. Der Leiter meiner Abteilung sagte mir einmal: "Sie haben eine natürliche Affinität zur Ästhetik, denken Sie nicht daran. Finden Sie andere Aspekte, auf die Sie sich konzentrieren können - der Rest wird folgen". Das war ein sehr hilfreicher Ratschlag. Nach und nach beschäftigte ich mich mehr und mehr mit dem Wesen von Objektstrukturen und strebte danach, Archetypen zu schaffen. Die Details sollten so scharf wie möglich hervorstechen. Dieser Ansatz half mir, zum Kern meiner Vision zu gelangen: Ich interessiere mich für Konstruktion und Proportionen, nicht so sehr für Formgebung oder Dekoration.

Gleich nach deinem Abschluss sah Rossana Orlandi deine Arbeiten auf der DAE Graduation Show während der Dutch Design Week 2016 und unterstützte dich von da an.

Guglielmo Poletti: Rossana ist für mich eine Schlüsselfigur gewesen, der ich dankbar bin. Sie gab mir die Möglichkeit, meine Arbeit direkt nach dem Abschluss des Studiums weiterzuentwickeln, der heikelsten Phase, in der ein junger Designer seine Ideen mutig zum Ausdruck bringen sollte. Sie vertraute und ermutigte mich ständig und gab mir wertvolle Ratschläge. Darin ist sie einzigartig – sie weiß, wie man die Qualitäten von jemandem nährt, um sie wachsen zu lassen. Ohne sie hätte ich vielleicht Mühe gehabt, einen richtigen Weg zu finden, um mit der Produktion meiner experimentellen Stücke Schritt zu halten.

Guglielmo Poletti im Gespräch mit Stylepark-Redakteurin Anna Moldenhauer.

Warum sind experimentelle Arbeiten und limitierte Editionen wichtig für dich?

Guglielmo Poletti: Freie Projekte ermöglichen es mir, ohne äußere Einflüsse dem Kern meines Interesses nachzugehen. Die Intimität dieses Prozesses hilft mir, meine Position gegenüber der Disziplin zu formulieren und meine Haltung im Auge zu behalten, was für die Konsistenz meiner gesamten Praxis entscheidend ist - unabhängig vom Kontext, auf den sie sich bezieht.

Bist du bei den bisherigen Experimenten auf ein Material gestoßen, das dich überrascht hat?

Guglielmo Poletti: Wenn man direkt mit Materialien interagiert, anstatt einem vorgegebenen Plan zu folgen, hat alles das Potential, einen zu überraschen. Ich interessiere mich für Materialien, die sich formen lassen. Ich zeichne nie, sondern arbeite mit abstrakten Modellen, Strukturstudien. Es ist ein Prozess, der sich um den Zufall dreht, und man muss auf die Kraft des analytischen Denkens vertrauen. 3D-Software verwende ich erst in der allerletzten Phase, wenn sie für die Kommunikation mit dem Unternehmen hilfreich ist. Aber um Gedanken für eine Maschine zu übersetzen, müssen sie zuerst rationalisieren werden - genau das versuche ich während meines Arbeitsprozesses zu vermeiden, da es die Intuition sonst daran hindert, eine aktive Rolle im Prozess zu spielen.

Gibt es etwas, das alle deine Arbeiten gemeinsam haben?

Guglielmo Poletti: Im Laufe der Jahre habe ich ein Interesse an der Konstruktion entwickelt, in Bezug auf die Eigenschaften der Materialien und ihren Grenzen. In meinen Arbeiten gibt es oft eine strukturelle Spannung, die die architektonischen Qualitäten der Objekte unterstreicht. Ich bin fasziniert von Werken, die die Wahrnehmung verändern, indem sie zerbrechlich erscheinen, und es dennoch schaffen, strukturell und damit funktional zu werden.

Die stereotype Definition der Funktion steht in deinen Entwürfen nicht im Vordergrund. Wie interpretierst du Funktion in deiner Arbeit?

Guglielmo Poletti: Ich habe mich nie dafür interessiert, Funktion nach der stereotypen Designperspektive zu definieren. Wenn die Form der Struktur folgt, ergeben sich die Eigenschaften der Objekte aus ihrer Konstruktion. Diese Position erlaubt es mir, willkürliche ästhetische Entscheidungen so weit wie möglich einzuschränken. Ich betrachte die Funktion als eine zusätzliche Schicht, die einen strukturellen Zweck erfüllt.

Kannst du Persönlichkeiten nennen, die dich aktuell in deiner Arbeit inspirieren?

Guglielmo Poletti: Ich mag Menschen, die sich dem Schubladendenken widersetzen und einen persönlichen Weg gehen, der der Entwicklung ihrer genauen Vision gewidmet ist und verschiedene Disziplinen miteinander verflechtet. Donald Judd oder Maarten Van Severen sind großartige Beispiele. Peter Zumthor ist ein Architekt, den ich sehr respektiere: Er geht keine Kompromisse ein und kämpft für die Erhaltung der Werte, an die er glaubt. Ich bin gerade dabei, mein Atelier zu renovieren, es ist das erste Mal, dass ich mich mit architektonischer Gestaltung befasse. Die Menge der Details ist im Vergleich zu einem Objekt viel größer. Mir wurde sofort klar, warum Architekten wie Peter Zumthor oder Dom Hans van der Laan beschlossen, sich im Laufe ihrer Karriere nur auf eine begrenzte Anzahl von Werken zu konzentrieren – um die richtige Wahl zu treffen und sie präzise auszuführen, kommt Quantität nicht in Frage.

Gibt es Mentoren, die dich bislang beeinflusst haben?

Guglielmo Poletti: Ron Gilad war der erste, der mir eine flüssigere Interpretation des Designs gezeigt hat. Im Jahr 2013 nahm ich an einem von ihm geleiteten Workshop auf der Domaine de Boisbuchet in Frankreich teil. Damals wusste nichts über meinen Beruf, aber dank seiner sehr unabhängigen Denkweise klappte es. Er verkörperte viele Eigenschaften, die ich suchte – einen autonomen Ansatz, konzentriert auf wenige Projekte. Dieses Jahr zeige ich zum Beispiel "nur" eine Tischfamilie für Desalto, aber ich bin mit dem Ergebnis voll und ganz zufrieden. Je mehr Projekte ich versuche, in einer kurzen Zeitspanne wie einem Jahr abzuwickeln, desto schwieriger wird es, eine starke Arbeit zu erstellen und die Details richtig auszuführen. Ich glaube, dass es heutzutage dringend notwendig ist, langsamer vorzugehen und qualitativ hochwertige Produkte anzustreben, die ein gewisses Maß an Innovation umfassen, sei es formal oder technisch.

Bist du der Meinung, dass du bereits deine eigene Designsprache entwickelt hast?

Guglielmo Poletti: Ich betrachte "Designsprache" als natürliche Folge der Schichten, aus denen das Werk besteht: Zuerst stellt man ein Alphabet zusammen, dann beginnt man mit dem Aufbau eines Vokabulars. Aus diesem Vokabular können sich viele Kombinationen ergeben, wodurch die Sprache weniger vorhersehbar wird. Auf diese Weise werden Spitzen, die von einzelnen Ideen herrühren, immer in eine Gesamtkohärenz eingebettet, die den Prozess prägt und ihren Einfluss wiedererkennbar macht.

Perfekte Balance: Prototyp des Tisches "L45" für Desalto.
Die Verbindung zwischen Tischbein und -platte ist beim "L45" auf ein Minimum reduziert.

Mit Blick auf deine Verbindung zur Industrie: Wie kam die Kooperation mit Desalto zustande?

Guglielmo Poletti: Mit Desalto kam ich 2018 über meine limitierten Editionen in Kontakt. Gordon Guillaumier, der künstlerische Leiter des Unternehmens, sprach mich an, und meinte, dass mein Designansatz gut zu ihrem Stil passen könnte. Ich suchte zu dieser Zeit nach einem Unternehmen, das ich mehr als "Partner" statt als Kunde in der Zusammenarbeit sehen konnte. Ich kannte und schätzte Desalto bereits, da es bei den Produkten des Unternehmens um Präzision geht, die oft an Grenzen stößt. Die Leidenschaft für das, was sie tun, gibt ihnen die nötige Motivation, sich auf Experimente und handwerkliches Können einzulassen. Wir kamen gut miteinander aus, und sie haben mir in der Kreation einen großen Grad an Freiheit gewährt, aus dem die ersten Kollektionen entstanden.

Was sind die Unterschiede zwischen deiner Arbeit für Desalto und den Werken, die du für eine Galerie schaffst?

Guglielmo Poletti: Man muss kompromissbereit sein, wenn man kommerzielle Werke produziert. Aber diese Einschränkungen stellen auch große Herausforderungen für die Produktion dar. Zum Beispiel ist mein Tisch MM8 als Einzelstück für einen privaten Kunden entstanden. Er war viel experimenteller, aber Desalto hatte genug Ausdauer, um ihn so weit zu entwickeln, dass er ein industrielles Produkt werden konnte. Wir arbeiteten mit Aluminium und nutzten die Eigenschaften des Materials, um die dünnstmögliche Struktur für die Tischplatte zu erreichen. Die Void-Serie war auch eine ziemliche Herausforderung, wir haben so viel Zeit damit verbracht, sie zu verfeinern, um jedes Detail abzustimmen. Die Volumen bestehen vollständig aus Stahl, der gebogen wird, um seine strukturellen Eigenschaften zu erhöhen. Die Stücke erscheinen aus einer Perspektive massiv, aus einer anderen luftig und fordern die Wahrnehmung dank des durch Schatten und ihre strenge Geometrie bestimmten Kontrasts heraus. Es ist wirklich erstaunlich, dass wir in der Lage waren, gemeinsam experimentelle Designstücke in Massenprodukte umzusetzen – es gibt nicht viele Unternehmen, die bereit sind, den erforderlichen Aufwand zu betreiben.

Was ist der Kern deines jüngsten Projekts für Desalto, die Tischkollektion "L45"?

Guglielmo Poletti: Wieder einmal geht es in dem neuen Stück um Präzision und Subtraktion. Die Kernaspekte des Projekts werden durch ein einziges Detail verkörpert, um das sich die ganze Arbeit dreht: die Verbindung zwischen dem Bein und der Tischplatte, gekennzeichnet durch einen auf ein absolutes Minimum reduzierten Kontakt, der auf dem Zusammentreffen der jeweiligen Scheitelpunkte beruht. Die Konstruktion wird durch eine präzise strukturelle Geste erreicht – die Kombination von zwei L-förmigen Profilen, die unter 45 Grad geschnitten werden, um unter 90 Grad verbunden zu werden. Die daraus resultierende Geometrie erzeugt ein Gefühl des prekären Gleichgewichts. Die Konfiguration ist sehr klar und sie muss auf den letzten Millimeter genau sein. Wenn die Kanten nicht perfekt aufeinander ausgerichtet sind, erhält man nicht den gewünschten Effekt. Die Stabilität wird durch eine wunderbare technische Konstruktion unter der Oberseite gewährleistet, die alles an seinem Platz hält. Für mich ist dieses Projekt der x-te Beweis dafür, dass es eine hochkomplexe Angelegenheit ist, etwas Einfaches und gleichzeitig Mächtiges zu schaffen. Obwohl ich mich nie mit Absicht auf diese Weise an die Arbeit gemacht habe, bin ich erneut bei einem Projekt gelandet, bei dem es auf absolute Präzision ankommt. Das scheint der entscheidende Faktor für den Erfolg meiner Arbeit zu sein.