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Konflikte lösen: Michele De Lucchi im Interview

Wie können wir die Welt noch retten? Aus der Sicht von Architekt und Designer Michele De Lucchi brauchen wir hierfür ein produktiveres, nachhaltigeres Miteinander. Konventionen hinterfragt er mit Empathie und wachem Geist. In Mailand gibt er uns einen Einblick in seine Arbeit, seine Überzeugungen und in sein Büro.
von Anna Moldenhauer | 26.04.2019

Anna Moldenhauer: Maestro De Lucchi, für Ihre Objekte greifen Sie gerne zu ungewöhnlichen Werkzeugen. Was haben Sie von der Arbeit mit einer Kettensäge gelernt?

Michele De Lucci: (lacht) Die Kettensäge ist ein sehr einfaches Werkzeug, ein grundlegendes Instrument, mit dem man nur wenig tun kann. Du kannst schneiden, nichts anderes, keine Rundungen, keine Details herausarbeiten. In gewisser Weise ist es also ein Weg mich zu zwingen ohne weitere Umschweife zum Kern der Idee zu gelangen. In diesem Fall führt der komplizierte Weg zur Klarheit.

Und es zählt Genauigkeit.

Michele De Lucchi: Absolut. Der Kopf muss sehr wach sein.

In Ihrem Buch "My Horrible Wonderful Clients" habe ich gelesen, dass Sie Ihre Entwürfe vorab stets in Zeichenbüchern festhalten. Warum ist Ihnen das wichtig?

Michele De Lucchi: Ich liebe es zu zeichnen. Zeichnungen sind der Hauptgrund, warum ich mich entschieden habe Architekt zu werden. Das Problem ist nur, dass mir die Zeit fehlt. Daher nutze ich jede Möglichkeit, wenn der Verstand einmal frei ist, im Zug, im Flugzeug, wenn ich irgendwo warte. Ich habe das Zeichenbuch immer in der Tasche, um diese verlorene Zeit zu nutzen.

Wohin gehen Sie am liebsten, um dem Verstand Freiraum zu geben?

Michele De Lucchi: Es ist sehr wichtig, einen privaten Raum zum Arbeiten zu haben. Ich habe großes Glück, denn in meinem Haus am Lago Maggiore finde ich so etwas wie das Nichts. Auf diese Weise kann ich die Arbeit, die ich alleine mache, von der Arbeit, die ich in Mailand im Team umsetze, vollständig trennen. Für einen Architekten ist es von Bedeutung, beide Positionen zu haben. Eine ist es, sich selbst auszudrücken oder zumindest herauszufinden was einen ausmacht. Die andere ist der soziale Aspekt des Architektendaseins. Ein Architekt ist eine Art Künstler, dient aber auch sich selbst. Dazu muss er alle Leute, die mit ihm arbeiten, die Gemeinschaft, lenken und zufriedenstellen. Wie ein Regisseur. Architekt zu sein, ist ein wunderbarer Beruf. Man darf nur die Realität nie außer Acht lassen. Als reiner Künstler muss die Realität nicht Bestandteil deiner Arbeit sein, als Architekt ist sie sehr wichtig.

Ihre Arbeit hat viel Kommunikation zu tun. Nur durch Kommunikation kann man für Menschen ein passendes Umfeld schaffen. Was muss ein Design oder eine Architektur haben, um mit Ihnen zu kommunizieren?

Michele De Lucchi: Kommunikation ist sehr wichtig. Auch als vermittelndes Element für die Idee, die Fantasie. Wenn man ein gutes Buch liest, erscheinen die Bilder auch vor dem inneren Auge. Die Fantasie muss da sein, denn sie ist das Bindeglied zwischen Worten und Objekten.

Der Reiz besteht also eher aus vielen Elementen, wie bei einem Puzzle?

Michele De Lucchi: Ein Puzzle, ja. Sehr gut. Die Arbeit eines Architekten besteht darin, Rätsel zu kombinieren.

Ich habe den Eindruck, dass Sie die Lösungen für die starken Rätsel, für die großen Umschwünge in Ihrer Arbeit, bevorzugt mit dem Entwurf einer Leuchte eingeläutet haben.

Michele De Lucchi: Ich frage mich auch immer, warum ich Leuchten so mag. Ich habe keine klare Antwort, aber was ich sagen kann, ist, dass sie für mich als Objekt interessant sind. Ein Objekt, das Licht erzeugt, das ästhetisch und technisch zugleich ist. Es macht mir Freude etwas zu entwerfen, das eine so wunderbare Wirkung hat. Ich erinnere mich, dass es im Haus meiner Eltern nur eine Leuchte an der Decke gab. Der Raum wurde lediglich von dieser Lichtquelle in der Mitte erhellt. Das ausdrucksstarke Licht in einer dunklen Atmosphäre ist selten geworden. Wir stellen heute viele Leuchten in einen Raum. Allein hier in meinem Büro gibt es mindestens zehn Lichtquellen, eine Landschaft aus Licht. So hat sich der gewünschte Effekt mit der Zeit verändert. Die Leuchte an sich ist ein technologisches Objekt, aber auch ein Objekt, das die Atmosphäre, die Umgebung der Zeit, in der wir leben, ausdrückt.

Und ein Auslöser für Erinnerungen, wie an das Haus Ihrer Eltern.

Michele De Lucchi: Ja, denn wenn man an einen Zeitpunkt zurückdenkt, identifiziert man eine Atmosphäre mit der Erinnerung, die man hat.

Als Ihre berühmteste Leuchte gilt "Tolomeo" für Artemide, die – einst für ihren Zeichentisch erdacht – sehr funktional und reduziert wirkt. War dieses Design mit Blick auf die Mitbegründung der Memphis-Bewegung für Sie kein Widerspruch?

Michele De Lucchi: Nein, denn ich glaube das Extrem ist ein Weg, um intellektuelle Fortschritte zu ermöglichen. Wir sind es gewohnt, unsere Meinung in einer Konvention und in einer Gewohnheit zu begründen, die oft sehr alt ist und uns somit ebenso geistig alt werden lässt. Für eine gute Balance im Design braucht es die Extreme auf beiden Seiten, reduziert und verspielt. Ich gebe mich nicht damit zufrieden, dass Dinge schon immer so getan wurden. Ich will wissen, was im Einzelnen dahintersteckt, was möglich ist.

„Ich gebe mich nicht damit zufrieden, dass Dinge schon immer so getan wurden.“

Michele De Lucchi

Sie haben lange für den Computerhersteller Olivetti gearbeitet und technischen Produkten ein Design gegeben, das seiner Zeit weit voraus war. Freiheit in der kreativen Arbeit war Ihnen immer ein Anliegen. Warum haben Sie sich nie dafür entschieden, der Industrie den Rücken zuzukehren?

Michele De Lucchi: Die Industrie ist die Essenz unserer Zeit und die Essenz des Fortschritts. Ich habe nichts gegen die Industrie. Ich wollte meinen Beitrag dazu leisten, dass sich Industrie und Gesellschaft erfolgreicher entwickeln. Dank der Industrialisierung können wir unsere Produkte in der Fülle weiterreichen. Das Handwerk sorgt für die menschliche Komponente. Zudem ist das Handwerk das beste Labor für die Industrie. Ohne die handwerkliche Sicht können wir industriell keine Perfektion herstellen. Wir brauchen beides. Die Industrie braucht Handwerk und das Handwerk braucht die Industrie.

Sie haben vor einigen Jahren gemeinsam mit Ihrer Frau Sybille die "Produzione Privata" gegründet, eine private Designproduktion, die handgefertigte Produkte herstellt. Alle nach Ihren Designs und unabhängig in Material und Idee von der industriellen Logik. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Michele De Lucchi: Ich brauche ein freies Feld zum Experimentieren. Das ist von grundlegender Bedeutung, auch wenn es kostspielig ist. Wenn man nicht ständig experimentiert, verliert man den Bezug, man entwickelt sich nicht mehr weiter. Wer neue Wege sucht, muss aber auch Fehler machen dürfen. Wenn ich keinen Fehler machen darf, bin ich nicht frei. Gemeinsam mit Unternehmen geht das nicht, da ich nicht will, dass andere für meine Experimente bezahlen müssen. "Produzione Privata" bietet einen schönen Rahmen, um Fehler machen zu dürfen.

Design ist für Sie eine Form der Mediation. Was möchten Sie mit Ihren Entwürfen vermitteln?

Michele De Lucchi: Ich möchte Konflikte lösen. Der Einklang mit der Umwelt ist sehr wichtig, um einen gesunden Menschenverstand zu fördern und einen gemeinsamen Weg zu finden. Also versuche ich in meinen letzten Projekten bessere Umgebungen für den Menschen zu schaffen, in denen wir alle Technologien nutzen, die wir heute haben. Insbesondere digitale Technologien, künstliche Intelligenz. Wir können diese Technologien nutzen, um eine bessere Gesellschaft zu bilden. Wir Menschen haben unglaublich große Probleme. Und wahrscheinlich kennen wir nur die Spitze des Berges, weil wir Angst davor haben was passiert, wenn wir das große Ganze sehen. Wir müssen optimistisch sein, um an eine bessere Zukunft zu glauben, um zu versuchen, den maximalen Nutzen für die nächste Generation zu generieren. Nachhaltigkeit ist sehr wichtig, schon alleine im Hinblick auf den Klimawandel. Dann haben wir die unausgeglichene Waage zwischen Arm und Reich. Wenn man auf den gegenwärtigen Zustand der Bevölkerungen schaut, leben immer mehr Menschen in Armut. Wir wissen nicht, wie wir uns diesem Thema stellen sollen.

"Earth Stations"

Ihr Lösungsansatz mit dem aktuellen Projekt "Earth Stations" besteht darin, aktive Architekturen, neue Atmosphären in Verbindung mit der Natur zu schaffen. Orte, die gemeinsame Ökonomien fördern und die bisherige Vorstellung von Eigentum auflösen. Die Kommunikation unterstützen und das Potenzial der Technologie nutzen.

Michele De Lucchi: Ja, denn der einzige Weg diese Probleme zu lösen, ist die Organisation. Und dafür braucht es die richtige Atmosphäre.

Sie beschäftigen sich sehr viel mit Anthropologie. Welche Erkenntnisse ziehen Sie aus der Lehre des Menschen für Ihre Arbeit als Designer und Architekt?

Michele De Lucchi: Um zu wissen wohin wir gehen, müssen wir wissen woher wir kommen. Es hilft mir zu sehen, welche Kräfte in der Evolution der Vergangenheit gewirkt haben, um zu erspüren was die treibende Kraft heute sein könnte. Und welche Rolle die künstliche Intelligenz als Alternative zu unserer menschlichen Intelligenz spielen kann, um Lösungen für unsere globalen Probleme zu finden. Wir haben die Mittel, die Welt zu kontrollieren oder den Dingen ihren Lauf zu lassen und hier gilt es eine Balance zu finden.

Eine Balance haben Sie auch stets in der Beziehung zwischen Kreativen und Kunden gesucht, was ist ihr aktuelles Fazit?

Michele De Lucchi: Kreative suchen Kunden, weil wir danach suchen, Menschen zu treffen, Menschen anzuziehen, Menschen zu verführen. Gleichzeitig sind wir selbst Kunden. Jeder der als Kunde auftritt, handelt als Protagonist bei der Entwicklung der Zukunft. Die Entscheidung wo wir etwas kaufen, wie wir etwas beurteilen, ist stets sehr diskriminierend. Wenn wir also ein Bewusstsein dafür schaffen, welche Zukunft wir gerne hätten und wie unsere Handlungen als Kunde dieses Ziel beeinflussen, ist das ein guter Schritt.

Ihr Mentor Ettore Sottsass fragte sich, für wen er im Endeffekt entwarf, und ob es seine Energie, die er in die Kreation der Dinge gesteckt hatte, wert war. Haben Sie eine Antwort auf diese Frage?

Michele De Lucchi: Viele Antworten. Eine Antwort ist das Bedürfnis nach Fantasie. Was die Vorstellungskraft nährt ist Vielfalt, die wir kultivieren sollten. Als Mensch wollen wir immer etwas anderes herausfinden. Wir entwerfen immer weitere Stühle, auch wenn wir wissen, dass es bereits viele auf der Welt gibt. Wir wollen ein Objekt mit neuen Fantasien aufladen. Und mit neuen Bedeutungen, denn Fantasie heißt, Bedeutungen zu schaffen. Wenn unsere Fantasie stirbt, kollabiert auch die Menschheit.

Was haben Sie von Ettore Sottsass gelernt?

Michele De Lucchi: Sicherlich diese Einstellung. Und Wege gegen die Konventionen vorzugehen, Probleme zu benennen, mit neuen Bildern eine Kommunikation zu provozieren.

Ich höre oft, dass man der aktuellen, jungen Designergeneration nicht mehr viel zutraut, sie würden ihre Freiheit zu wenig nutzen, seien zu angepasst und zu zurückhaltend.

Michele De Lucchi: Wissen Sie warum? Wir sind alt. (schmunzelt) Junge Leute sind jung und wir sind alt. Wir alten Leute beschweren uns immer, wir sind nicht mehr frisch genug um uns von dem was die Jungen kreieren überraschen zu lassen.

Sie glauben also nicht, dass wir eine neue Revolution im Design brauchen?

Michele De Lucchi: Nein. Die Revolution findet bereits statt und wir erkennen es nur nicht. Es gibt viele interessante Bewegungen, die nach neuen, nachhaltigen Wegen suchen und die Einfluss auf unser Verhalten als Kunden und Kreative haben.

Zum Abschluss: Gibt es etwas, für das Sie gerne selbst noch eine neue Gestaltung finden würden?

Michele De Lucchi: Ja, Flugplätze. Ich möchte im Rahmen von "Earth Stations" eine neue Gebäudetypologie erschaffen.

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