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Isamu Noguchi in seinem Atelier in Gentilly bei Paris, 1927

Radikal grenzüberschreitend

Die große Isamu Noguchi Retrospektive in Bern zeigt das Werk eines Weltenbürgers, der stets auf der Suche nach der Verbindung von Kunst und Leben war.
von Andrea Eschbach | 09.11.2022

In Europa ist der Bildhauer Isamu Noguchi (1904-1988) vor allem als Gestalter bekannt: Sein gleichnamiger Coffeetable ist längst eine Ikone des Möbeldesigns. Ebenso legendär sind die "Akari Light Sculptures", federleichte Leuchten aus japanischem Washi-Papier und Bambusruten, die als Pla­gia­te um die ganze Welt gingen. Doch die Designobjekte des in Japan aufgewachsenen Amerikaners waren nur ein Teil seiner Vision. Dies beweist derzeit die große Schau "Isamu Noguchi" im Zentrum Paul Klee in Bern: Es ist die erste große Retrospektive in Europa seit zwei Dekaden, zuerst im Barbican in London, anschließend im Museum Ludwig in Köln und nun in der Schweizer Hauptstadt zu sehen. Zu entdecken ist das Oeuvre eines Weltenbürgers, der stets auf der Suche nach der Verbindung von Kunst und Leben war. Der Designer und Bildhauer war experimentierfreudig, vielseitig interessiert und radikal grenzüberschreitend. Er bewegte sich mühelos zwischen Tradition und Moderne, zwischen Handwerk und modernen industriellen Techniken, Abstraktion und Figuration, Design und Kunst.

Verschränkung von Kunst und Leben

In einer mäandernden Inszenierung treten Noguchis Arbeiten in Wechselwirkung – von Entwürfen für öffentliche Plätze, Denkmälern mit politischer Aussage über Skulpturen und Designobjekte bis zu Spielplätzen und Gärten. In zehn Sektionen erschließt sich den BesucherInnen das Werk eines Künstlers, der sich zeitlebens nie festlegte. "Alles war Skulptur", sagte er einmal. "Alle Materialien, alle Ideen, die einfach in den Raum hineingeboren werden, betrachte ich als Skulptur." Ganz im Sinne Noguchis, der seine gesamte Arbeit in Beziehung zur Gesellschaft sah, stehen die kommerziellen Arbeiten des Gestalters – so auch ein Babyphon aus Bakelit in Form eines abstrahierten Kopfes – in der Schau ganz selbstverständlich neben Skulpturen aus Holz, Bronze, Schiefer oder Marmor.

Dass Isamu Noguchi sich nicht auf ein Genre beschränken mochte, lag sicher auch in seiner Biografie begründet, denn er wuchs in zwei kulturell unterschiedlichen Welten auf. Durch das Japan seiner Kindheit war er vertraut mit traditionellen Handwerkstechniken wie der Holz- und Papierbearbeitung sowie der Keramik. Für viele seiner Skulpturen und Objekte, die er seit Anfang der 1930er-Jahre gestaltete, verwendete er Mahagoni und Balsaholz, traditionelle Seto- oder Shigaraki-Keramik sowie handgeschöpftes, durchscheinendes Washi-Papier.

Isamu Noguchi Play Sculpture, ca. 1965, hergestellt 2017 Stahl und Farbe 112,7 × 261,6 × 261,6 cm

Spannungsvolle Kontraste

Objekte mit spiegelnder Oberfläche und biomorphen Formen wie "Globular" (1928) zeugen von Noguchis Zeit als Assistent des Bildhauers Constantin Brancusi. Die bei dem rumänischen Bildhauer gelernte formale Reduktion sowie der perfektionierte Umgang mit Werkzeugen und Materialien fand Noguchi in der japanischen Kunstauffassung bestätigt. Die Radikalität, mit der er Techniken verschiedener Kulturen – traditionelle und zeitgemäße – in seinen Werken umsetzte, zeigen spielerische Terracotta-Figuren aus einem Aufenthalt in Japan in den frühen 1950er-Jahren, die in krassem Gegensatz zu den New Yorker Skulpturen der späten 1950er-Jahre stehen, die mit Hilfe von Maschinen aus Metallblechen gefaltet werden. Japanische Tischlertechniken, die Noguchi sich in seiner Jugend angeeignet hat, flossen auch in seine "Interlocking Sculptures" ein. Sie sind einerseits angeregt von den Traumwelten der Surrealisten, gehen aber auch auf Noguchis Kriegserfahrungen zurück. Spielerisch und schmerzhaft zugleich wirken diese ineinander verschränkten, biomorphen Gebilde aus knochenähnlichen Elementen. Kunst und Design vermischen sich hier: Interlocking, ineinander verwoben, sind auch die Holzfüsse des Coffee Table – ein Tisch wie eine Skulptur.

Auf zahlreichen Reisen erforschte Noguchi nicht nur alte Kulturtraditionen in Asien, sondern auch in Europa und Amerika. Er besuchte Stonehenge, die Gartenanlagen von Kyotos Klöstern und Tempeln, studierte in China die traditionelle Tuschemalerei, und erkundete die astronomische Anlage Jantar Mantar im indischen Jaipur. Sein Interesse galt aber auch der modernen Technologie und Wissenschaft. Durch die Begegnung mit R. Buckminster Fuller wurde sein Werk in eine neue Richtung gelenkt. Noguchi arbeitete gar am futuristischen aerodynamischen "Dymaxion Car" seines Freundes mit.

Noguchi war ein stetig Fragender, ein neugieriger Entdecker. Er streckte seine Fühler in alle möglichen Richtungen aus. So galt ihm auch Tanz und Theater als Kunstform, die auf die Gesellschaft einzuwirken vermochte. Immer wieder entwarf er Bühnenbilder, die Tänzerinnen und Choreografinnen Ruth Page und Martha Graham gehörten zu seinem Freundeskreis. So entstanden Kostüme wie der "Spider Dress" (1946): Die Skulptur aus Messing war für Noguchi ein "Kleid der Verwandlung": Das Spinnenkleid, das wie ein Käfig wirkt, steht die meiste Zeit der Aufführung als bedrohliches, lebloses Objekt auf der Bühne – bis Martha Graham in der Schlussszene in das Gerüst schlüpft und in einer verdrehten Explosion aus Metall und Gliedmaßen tanzt.

Isamu Noguchi
Bis 8. Januar 2023

Zentrum Paul Klee
Monument im Fruchtland 3
3006 Bern

Öffnungszeiten:
Dienstag bis Sonntag
10 bis 17 Uhr

Spot Isamu Noguchi
Blick in die Ausstellung

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