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Der neue Lounge Chair "Citizen", den Konstantin Grcic für Vitra entworfen hat.

"Das Stahlseil macht alles für uns"

"Citizen" heißt der neue Lounge Chair, den Konstantin Grcic für Vitra entwickelt hat. Im Gespräch mit Thomas Edelmann erzählt Grcic, warum es sich lohnen kann, mit Ideen nachhaltig umzugehen und weshalb es ihn reizt, Einfachheit abseits gewohnter Formen zu erproben.
17.04.2020

Thomas Edelmann: Der neue Lounge Chair "Citizen" steht im Zusammenhang mit früheren Projekten für Vitra. Speziell greift er Bauteile und Ideen von "Waver" auf, einem raumgreifenden Gartensessel. Weshalb?

Konstantin Grcic: "Landen" für die Vitra Edition war 2007 mein erstes Projekt für Vitra. Im weiteren Sinne ging es damals um Möbel für den öffentlichen Raum, um Möbel ohne festgelegte Typologie. Für mich war es ein Experiment, verbunden mit der Hoffnung, für Vitra weiterarbeiten und Produkte entwickeln zu können. In den folgenden vier Jahren entstanden dann verschiedene Ideen für Outdoormöbel, wobei schließlich nur ein einziges Produkt auf den Markt kam, der Sessel "Waver". Ich mochte den Stuhl, dessen textile Sitzschale an vier Punkten in einem freischwingenden Rohrrahmen aufgehängt war. Leider hat "Waver" kommerziell nicht funktioniert, was immer viele Gründe hat. Obwohl er nach einigen Jahren wieder aus der Produktion genommen wurde, kam ich in Gesprächen mit Eckart Maise, der damals die Entwicklungsabteilung leitete, immer wieder auf das Grundprinzip des "Waver" zurück. ‘Schade’ sagten wir uns – da gab es eine Idee mit viel Potenzial, die wir aber mit "Waver" noch nicht auf den Punkt gebracht haben. Und begannen wir, an einer Neuinterpretation der ursprünglichen Idee zu arbeiten.

Das ist ungewöhnlich, denn hier geht es ja nicht um Produktpflege, sondern um einen neuen Gegenstand mit verändertem Kontext, der dennoch nicht verleugnet, einen Vorläufer zu haben. Was bleibt bei "Citizen" übrig, das von "Waver" stammt?

Konstantin Grcic: Wir haben das Möbel von draußen nach drinnen geholt. Doch so einfach es klingt, die Ausgangsidee von "Waver" für einen Lounge Chair zu nutzen, so diffizil war der Weg dorthin. Entweder blieben wir zu eng an "Waver" – dann machte die Neuentwicklung keinen Sinn. Oder wir bewegten uns zu weit weg. Also probierten wir in einzelnen Schritten Dinge aus, verwarfen manches, kamen aber doch beständig voran.

Konstantin Grcic

Was wurde beibehalten?

Konstantin Grcic: Die Grundidee einer Rahmenstruktur mit abgehängtem Sitz blieb bestehen. Dann ist da der charakteristische Rohrrahmen, das drehbare Untergestell mit dem und den großen Tatzen, die für draußen gedacht waren, aber auch drinnen funktionieren…

... doch oberhalb des Gestells hat sich alles verändert?

Konstantin Grcic: Dank seiner Krümmung hat der Rohrrahmen einen leichten Cantilever-Effekt, eine Beweglichkeit in der Struktur. Zugleich beschreibt der Rahmen eine großzügigen Sitzraum. Bei "Waver" saß man in einem aus Segeltuch genähten Sitzsack, der freischwingend an den Schultern und den beiden vorderen Ecken am Rohrrahmen angehängt war. Beim neuen Sessel sind die Bestandteile Sitz und Rücken separiert. Sie folgen jeweils einer eigenen Logik. Die Rückenschale, die es in zwei unterschiedlichen Ausführungen – high und low – gibt, ist gepolstert und fest am Gestell montiert. Der Sitz ist am Rahmen aufgehängt und kann schwingen. Im Laufe der Entwicklung gab es verschiedene Denkmodelle und Optionen, wie man das am besten umsetzt. Über einige Umwege – oder besser gesagt, über empirisches Arbeiten – kamen wir schließlich auf die Lösung mit den drei Stahlseilen. Sie ermöglichen eine leichtgängige, freie Bewegungen in alle Richtungen.

Die Stahlseile ermöglichen Beweglichkeit und schaffen Vertrauen in die Konstruktion.

Konstantin Grcic: Die Bewegung, die entsteht, ist interessant. Sie findet, da die Rückenlehne fix ist, unterhalb des Torsos statt. Es ist eine subtile Art, sich beim Sitzen zurecht zu rücken. Das hat nichts von einem Schaukelstuhl. Es sind vielmehr ganz kleine Korrekturen im Bewegungsablauf, die ich eher unterbewusst mache, zugleich aber als angenehm, als gut empfinde. Die Stahlseile sind so dimensioniert, dass sie die Konstruktion nicht nur tragen, sondern ihr eine gewisse Steifigkeit geben. Die Seile funktionieren wie eine Feder, um die Bewegung zu begrenzen, wenn auch nicht mit einem mechanischen Anschlag. Dass wir die Seile so offen zeigen, ist sicherlich radikal. Darüber haben wir ausgiebig diskutiert. Toll ist, dass es dann auch geht.

Beim "Waver" verwiesen textilen Bänder und Segeltuch auf Sportarten wie Windsurfing und Paragliding. Durch das Stahlseil aber auch die Polster wirkt "Citizen" schwerer.

Konstantin Grcic: Indem wir das Möbel nach drinnen holen, haben wir aus dem Stuhl einen Lounge Chair gemacht. Mit dieser Bezeichnung verbindet man ganz andere Referenzen. Verglichen mit dem traditionellen Lounge Chair ist "Citizen" dennoch sehr leicht. Da wir die Konstruktion offenlegen, ist er – für diese Typologie ungewöhnlich – in der Form aufgelöst. Wichtig war, die richtige Balance zu finden, damit der Sessel als Lounge Chair lesbar ist und vom Sitzgefühl genau das erfüllt, was man sich erwartet. Während beim Sitzen diesen Erwartungen entsprochen wird, bricht er mit der klassischen Form, mit den Erwartungen an die Materialität. Das offene Rohr und erst recht die Stahlseile sind ja Elemente, die in der eher konservativen Welt der Lounge Chairs unbekannt sind. Dennoch ist "Citizen" kein Möbel, das irritieren will.

Es bieten sich viele Möglichkeiten an, Referenzen herzustellen. Bei "Waver" war es der Fledermaus-Sessel und jetzt könnte man an den "Womb"-Chair von Eero Saarinen denken, was die Beziehung von Rahmen und Schale angeht.

Konstantin Grcic: Ich würde Franco Albini und Franca Helg noch ergänzen. Ihr Sessel "Tre Pezzi" war zwar für mich während der Entwicklung kein Vorbild, aber als wir die Prototypen ansahen, fielen uns gewisse Bezüge auf: Auch "Tre Pezzi" besitzt eine Stahlrohrkonstruktion, doch ist das Möbel statisch. Die drei separaten Polsterelemente sind getrennt voneinander am Rohrrahmen befestigt. Es gibt also Parallelen und große Unterschiede.

Welche Besonderheiten gibt es bei der Entwicklung eines Möbels zusammen mit Vitra?

Konstantin Grcic: Bei jedem Unternehmen, für das ich arbeite, gibt es gewisse Motive und Themen, die sich durch die gemeinsame Arbeit ziehen. Vitra ist unter all meinen Kunden derjenige mit den meisten Möglichkeiten, was Engineering und Qualität angeht. Irgendein seltsamer Mechanismus in mir bringt mich dennoch dazu, diesen technologischen Ansatz nicht zu betonen. ‘Zeig’ Vitra, dass man es auch anders machen kann’, denke ich mir. Das führt zu Diskussionen, die für das Resultat wichtig sind. Antonio Citterio hat mit Vitra den "Grand Repos" gemacht. Da ist unsichtbar ein Synchronmechanismus verbaut. Parallel dazu gibt es mit "Citizen" nun etwas anderes. Man kann es einfacher lösen – mit demselben Unternehmen! Komplexe Bewegungen erreichen wir mit drei Stahlseilen. Wir müssen nur verstehen, wie wir sie richtig aufhängen. Dann macht das Stahlseil alles für uns. Diese Einfachheit mag ich. Sie wäre ohne das Vitra-Engineering nicht möglich. Flapsig könnte man sagen, ich arbeite ein bisschen gegen die typische Vitra-Lösung an, bei der immer das Spritzgussteil der Vorzug erhalten würde. Die einfache Variante erfordert aber mindestens genauso viel Präzision und Entwicklung.

Wie muss man sich diese Diskussionen vorstellen?

Konstantin Grcic: Bereits bei "Waver" und nun wieder bei "Citizen" habe ich mich intensiv mit Rolf Fehlbaum über das Thema Stahlrohr unterhalten. In meinen Augen ist es das Material, mit dem das moderne industrielle Möbel erfunden wurde. Deshalb war es für mich selbstverständlich, einen Lounge Chair daraus zu bauen und das auch zu zeigen. Fehlbaum war zunächst skeptisch. Mit der Verwendung von Stahlrohr, so sein Argument, bezögen wir uns zwangsläufig auf etwas Historisches. Darum ging es mir aber nicht. Mit dem Stahlrohr verbindet sich für mich vielmehr eine bestimmte Ökonomie und ein Selbstverständnis, das auf Möbel passt. Deswegen mag ich es.

Möbel haben auch eine Zeitdimension. "Waver" entstand vor etwas weniger als zehn Jahren. Was war vor zehn Jahren relevant? Was ist das Neue, die Herausforderung von heute? Wenn Rolf Fehlbaum Stahlrohr als zu historisch in Frage stellt, was ist das Zeitgenössische heute?

Konstantin Grcic: Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ich finde, die Möbelwelt ist sehr langsam. Zehn Jahre sind dort ein kurzer Zeitraum. Dennoch – vor zehn Jahren wäre Vitra noch nicht so weit gewesen, einen Lounge Chair wie "Citizen" auf den Markt zu bringen. Und zwar nicht wegen der erforderlichen Technik, sondern wegen seines Aussehens: "Citizen" hat sichtbare Schweißnähte, ist aus Stahlrohr gefertigt, hat dicke Drahtseile, und Füße, die von einem Gartenmöbel abstammen. Heute kann ein Vitra-Produkt ein solches Erscheinungsbild besitzen, weil wir sowohl unsere eigenen Sehgewohnheiten verändert haben als auch Vitra sich verändert hat. Die Konvention ist den meisten Menschen unwichtiger. Chrom, schöne Gussteile oder eine perfekte Doppelnaht im Leder – diese Statussymbole spielen oft gar keine Rolle mehr. Man sucht Möbel, die konkrete Bedürfnisse erfüllen – und diese Bedürfnisse verändern sich fortlaufend.