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Nichts ist sicher

Der Kopf ist klüger, als man denkt
19.05.2017

Eine Kolumne von Michael Erlhoff

Schlaukopf

Doch, zumindest gelegentlich ist der Kopf wirklich klüger, als man denkt. Dies betrifft sowohl die Wahrnehmung der Außen- wie der Binnenwelt als auch die eigene Artikulation von Ideen und Einsichten und demgemäß vielfältig ebenfalls das Design und die Architektur.

Schnell wird der Zusammenhang mit der Wahrnehmung deutlich, da wir Menschen doch einen großen Teil der sinnlichen Eindrücke vorbewusst aufnehmen und stets mit jeweils anderen Eindrücken verknüpfen. Etwa auf der Straße, wo wir als Fußgängerin oder Fußgänger häufig Fahrzeuge eher akustisch bemerken, noch bevor wir diese gesehen haben. Bestimmte andere Gefahren erleben wir zuerst über die Nase oder über den Geschmack. Und wir tasten uns, wenn wir nicht sehen können, durch die Gegend. Stets zwar ein wenig verunsichert, gleichwohl aber in einem Grundvertrauen darauf, dass unser Kopf das irgendwie schon begreifen und uns demgemäß leiten wird.

Unbewusst akzeptieren wir diese Kompetenz des Kopfes und folgen ihm. Wobei uns auch nichts anderes übrigbleibt, denn wir können nicht alles, was um uns herum und uns selbst geschieht, immer erst durchdenken, präzise reflektieren, um daraus Schlüsse für die Handlungen zu ziehen. Vielmehr brauchen wir dringend das, was allgemein und etwas eigenartig gern "automatisch" genannt wird. Ansonsten würden wir völlig verstört dieses Leben nicht überleben.

Und doch ist dabei merkwürdig, dass wir diese Kompetenz des Kopfes mitsamt dessen gesamter körperlicher Materialität, ungern würdigen. Stattdessen machen wir uns immer wieder vor, wir selber wären allemal verantwortlich für das, was wir tun und lassen. Hier taucht also auch eine sehr unbestimmte Vorstellung von dem auf, was wir selber eigentlich sind: Kopf oder Denken. Was als Einheitsbrei eben nicht verhandelbar ist, denn das, was als Denken gelernt wird, verbindet sich in der Vorstellung davon mit klaren Vorstellungen vom Denken: das eine nach dem anderen, alles in einer bestimmten Logik, aufgebaut von Alpha bis Omega. Der Kopf hingegen agiert viel chaotischer, zumindest im Rahmen ständiger Assoziation. Also nicht gradlinig, sondern höchst vermittelt und vermeintlich durcheinander.

Irgendwie hintergründig jedoch akzeptieren wir diese schier unglaubliche Kompetenz des Kopfes – was deutlicher wird im Bereich der menschlichen Findung und Artikulation von Gedanken. Ein vorzügliches Beispiel dafür ist jene allgemeine Einsicht, man müsse, wenn einem beispielsweise ein Name oder eine Zahl nicht einfällt, an etwas anderes denken.

Denn das stimmt einfach. Wir alle verfügen über diese Erfahrung und können sie jederzeit wiederholen. Was übrigens sogar für Vorträge gilt, da den Vortragenden gelegentlich kurz vor der Nennung eines Namens oder einer zeitlichen Angabe auffällt, in diesem Moment keineswegs darüber zu verfügen. Unerfahrene Referentinnen und Referenten mögen in diesem Fall den hilflosen Fehler produzieren, nun verzweifelt im Gedächtnis nach diesen fehlenden Daten zu forschen, also in den ausgetretenen Pfaden des Denkens herumzugeistern und entsprechend den für das Denken vorgeschriebenen Plänen zu folgen. Doch das führt schlicht zur Katastrophe. Man stottert, gibt auf. Wirklich hilft einfach nur in dieser gar nicht so seltenen Situation, dem Kopf zu vertrauen, ihn frei zu geben, also darauf zu bauen, dass es dem schon einfallen wird, worüber man weiter reden soll. Und in gewiss mehr als neunzig Prozent solcher Vorgänge entwickelt der Kopf gewissermaßen ganz spontan die notwendige Artikulation.

Daraus kann man nur folgern, dass die zutiefst assoziative Vorgehensweise und Fähigkeit des Kopfes, dem sich das Denken in unserer Kultur zwanghaft verweigert, wenigstens manchmal, wenn nicht sogar häufig den allgemeinen Vorschriften der Logik weit überlegen ist. Was sogar jener ansonsten so strenge Logiker Immanuel Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ und gewiss auch dann anerkennen musste, wenn er – dies tat er bekanntlich sehr gern – für das Abendessen selber den Senf anrührte und abschmeckte.

Was alles zweifellos auch sehr bedeutsam für die Gestaltung und für deren Wahrnehmung ist. Da dies doch beschreibt, wie intensiv ebenfalls in allen Formen von Gestaltung solche assoziativen Prozesse eine beträchtliche Rolle spielen, nämlich sich alle nur vorstellbaren Erinnerungen und Erfahrungen in einem eigenartigen Durcheinander von diesen im Kopf als Ideen aufscheinen und sich durchsetzen. Tatsächlich kann niemand mit Gewissheit erklären, auf welchen Wegen und warum welche Ideen, Bilder oder Töne entstanden sind und umgesetzt wurden. Sicherlich kann man einiges versuchshalber nachvollziehen und rekonstruieren, aber da bleiben stets Lücken, die allzu häufig lediglich im Nachhinein aus irgendwelchen legitimatorischen Erwägungen dann dennoch in die Zwangsjacke der Logik gestopft werden.

Nicht anders verhält es sich mit dem Gebrauch des Gestalteten. Die Menschen sitzen einfach irgendwo und merken zwar, ob das gerade bequem oder unbequem ist, könnten jedoch nicht begründen, warum – oder tun das dann in beliebten Allgemeinplätzen. Dasselbe geschieht dann, wenn sie irgendwelchen Zeichen und Signalen folgen, etwa den richtigen Bahnsteig oder die korrekte Ausfahrt finden. Nicht anders, wenn sie lesen und dabei vielleicht feststellen, dass manches besser und anderes schlechter lesbar ist, aber nichts von Typografie wissen. Selbst die Bedienung von Computern oder von Smartphones geschieht längst "automatisch", wäre anders gar nicht machbar, lediglich denkbar.

Schafskopf

Ja, der Kopf ist klüger als man denkt. Doch gelegentlich leider auch viel dümmer. Mithin benötigen wir zumindest ab und an durchaus die gedankliche Anstrengung und Analyse. Und auch dies ist, wie sich gleich erweisen wird, für die Gestaltung von zentraler Bedeutung.

Ein ganz wichtiges Beispiel dafür ist jener Vorgang, den man leicht selber testen kann. Nahezu alle Menschen in zumindest den halbwegs kapitalisierten Gesellschaften erkennen sofort das Logo von "Coca-Cola". Einfach so, automatisch. Doch niemand, nicht einmal professionelle Grafik-Designerinnen und -Designer, sind in der Lage, dieses Logo, wenn sie dieses nicht gerade vor Augen haben, auch nur halbwegs korrekt wiederzugeben, also aufzuzeichnen. Alle machen dabei grobe Fehler – und wundern sich dann darüber.

Dabei ist doch klar: Der Kopf ist hier nur darauf eingerichtet (und davon leben solche Warenzeichen und Marken), etwas zu erkennen, und nicht darauf, es zu reproduzieren. Denn, dies wird in diesen Prozess offenkundig, der Kopf handelt äußerst effizient und tut nur das, was unmittelbar jeweils nötig ist. Wollen wir gelegentlich mehr, dann müssen wir nachdenken.

Noch viel drastischer greift das nächste Beispiel, das zudem die Gestaltung gewissermaßen ins Zentrum trifft: Eigentlich weiß man schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts, denn damals bewies dies der Naturwissenschaftler Helmholtz, dass das menschliche Auge auf keinen Fall in der Lage ist, rechte Winkel und parallele Linien zu sehen, auch nicht beide Augen gemeinsam. Was sehr leicht aufgrund der optischen Konstruktion des Auges beweisbar ist, gleichwohl bis zum heutigen Tag öffentlich fast immer auf blankes Erstaunen oder auf Widerspruch stößt. Offenbar widerspricht dies dem Denken, da man doch meint, problemlos rechte Winkel und parallele Linien sehen zu können. Umso wichtiger, da ja so viele Einblicke und Ausblicke unserer Gegenwart rechtwinklig gestaltet sind. Häuser, Computerbildschirme, Fernseher, Fenster und so vieles mehr.

Seltsam ist das. Denn wir müssen erneut anerkennen, dass der Kopf eigenwillig und völlig effizient arbeitet oder auch gewissermaßen als Faulpelz zu viel Arbeit verweigert. Aus diesem Grund wird alles, was ähnlich ist, gleichgeschaltet. Was schon Leibniz wusste, wenn er im hannoverschen Herrenhäuser Garten seine adeligen Schülerinnen und Schüler aufforderte, nach zwei gleichen Blättern von Bäumen und Büschen zu suchen. Klar, keine Chance, obwohl im ersten Augenblick alle gleich scheinen. Mithin verfügt der Kopf über so etwas wie Leitlinien oder Vorstellungen von Kongruenz, auf die hin alles, was wahrgenommen wird, sofort zugerichtet wird.

Man kann sich das leicht vorstellen, wenn man für sich mal folgendes Bild entwirft: Ein Mensch, der dies nicht gewohnt ist, geht nachts in völliger Dunkelheit durch einen Wald. Ist also weitgehend bei der Orientierung darauf verwiesen, was er hört und woran er sich stößt (zusätzlich bleibt ihm noch der Geruch). Also lauscht er – und nimmt nun sehr viele Töne wahr. Kein Problem, solange dieser Mensch etwas hört, was er kennt oder wenigstens identifizieren kann. Also das Geräusch der Blätter im Wind, vielleicht noch einen Uhu, von dessen Artikulationen man meint, über eine Vorstellung zu verfügen.

Problematisch wird dies, wenn – und davon kann man sehr verständlich ausgehen – dazwischen Töne in seine Ohren gelangen, die er nicht kennt. Dies würde ihn verunsichern, vielleicht sogar Panik hervorrufen. Doch davor bewahrt ihn möglichst jener Kopf, der nämlich versuchen wird, alle auch unbekannten Töne mit bekannten Tönen zu assoziieren, um den Eindruck zu erwirken, nichts sei unbekannt, vielmehr alles geläufig. So nämlich wird jegliche Furcht potentiell unterdrückt und eine Panik vermieden. Jedoch unter der Maßgabe von Täuschung. Immerhin durchdringt dieser Vorgang alle Bereiche des Lebens, werden die Menschen – gerade weil, wie oben beschrieben, viele unserer Wahrnehmungen und auch Ideen und Artikulationen unaufmerksam dem Kopf vertrauen – in die Irre geleitet und zu Fehlleistungen verführt.

Man ahnt, was dies für Design und Architektur bedeutet, da doch gerade dort so viel rechtwinklig gedacht wird. Bloße Imaginationen, kein Lichtblick.

Behutsam

Nun muss auch dies nicht immer trostlos enden, zumal gelegentlich Fehlleistungen und somit an und für sich falsche Wahrnehmungen und Artikulationen durchaus wunderbare Einsichten und Konstruktionen hervorrufen. Andererseits sind wir dessen nicht sicher, kann dieses Problem des dummen und lediglich auf Effizienz getrimmten Kopfes schlicht Unsinn oder auch Unheil produzieren, zu falschen Einsichten verleiten, die inhuman, unsozial und gelegentlich tödlich enden können. Aber bloß anders und nicht immer besser handelt das Denken, das bekanntlich ebenfalls viel Blödsinn und etliche Grausamkeiten produziert hat.

Man weiß es nicht, man muss halt doch darüber nachdenken, es sich vergegenwärtigen – und zugleich in jeder Gestaltung und weit darüber hinaus sich nicht die Offenheit verbieten, dennoch recht häufig dem so klugen Kopf vertrauen. Sicher ist gar nichts.

Michael Erlhoff

Er ist Autor, Design-Theoretiker, Unternehmensberater, Kurator und Organisator; einst CEO des Rat für Formgebung, Mitglied des Beirats der documenta 8 und Gründungsdekan (und dann bis 2013 Professor) der Köln International School of Design/KISD. Erlhoff war Gründer der Raymond Loewy Foundation, ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung und leitete als Gastdozent Projekte und Workshops an Universitäten in Tokio, Nagoya, Fukuoka, Hangzhou, Shanghai, Taipei, Hongkong, New York und Sydney. Seit 2016 lehrt er als Honorarprofessor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig.