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Respekt für das Biest

Der Film "Monobloc" von Hauke Wendler setzt den international präsenten weißen Plastikstuhl in das Scheinwerferlicht, lässt dabei allerdings wichtige Fakten im Schatten.
von Thomas Edelmann | 08.02.2022

Acht Jahre brauchte der Fernsehjournalist und Dokumentarfilmer Hauke Wendler um seinen Film über einen besonderen Stuhltypus zu realisieren, ein persönliches Projekt. Vielleicht liegt das auch am Gegenstand, dem weißen stapelbaren Plastikstuhl, jenem Biest unter den Sitzmöbeln, das selten schön, aber dafür praktisch, billig und daher überall auf der Welt gefragt ist. Bislang drehte Wendler als Koautor mit seinem Kollegen Carsten Rau Filme über politische Verhältnisse und Zustände in Deutschland, meist ging es dabei um Flucht und Migration. Vom politischen Fach wechselte Hauke Wendler nun zu einer filmischen Bildungsweltreise. Im 90-Minuten-Film "Monobloc" ist der weiße Plastikstuhl Hauptdarsteller, ein Möbel ohne gestalterische Ambitionen. "Monobloc" feierte 2021 auf Film-Festivals Premiere und kam Ende Januar 2022 in die Kinos. Inzwischen wuchs daraus ein Multimediaprojekt, begleitet von einem sechsteiligen NDR-Podcast, in dem Wendler von seinem internationalen Dreh erzählt und Aspekte aus dem Film vertieft. Hinzu kommt ein Bildband mit über 190 Seiten, der Ende Februar bei Hatje Cantz erscheint, die englische Fassung folgt im Juli 2022. Von weißen Plastikstühlen scheint Hauke Wendler gleichermaßen abgestoßen wie fasziniert. Es gibt sie in aller Welt, sie sind präsent auch an Orten und Unorten, nehmen auf Kontexte keine besondere Rücksicht. Lassen sich vorgefasste Meinungen, Zustände und Verhältnisse am Beispiel eines einzelnen, weltweit präsenten Objektes darstellen und diskutieren? Ein Stuhl als Vehikel der Aufklärung? Das könnte ein Motiv sein, einen Film über einen Stuhl zu drehen.

Kaum hat Hauke Wendlers Projekt 2016 begonnen, da scheint es schon wieder vorm Scheitern zu stehen. Zunächst will niemand seinen Film fördern, etliche Anfragen werden abgelehnt. Damit nicht genug, mit "Monobloc – Ein Stuhl für die Welt" widmet das renommierte Vitra Design Museum eben jenem Stuhltypus eine ganze Ausstellung. Könnte das Aufmerksamkeit von seinem Projekt abziehen, fragt sich der Regisseur? Die kleine Zusammenstellung inmitten der Schausammlung schließt Jahre bevor Hauke Wendler seinen Film vollenden kann. Am Tag des Ausstellungsabbaus dreht er in Weil am Rhein. "Stühle aus einem einzigen Stück Material zu machen," erzählt ihm die Kuratorin Heng Zhi, "hat die Designer schon lange fasziniert." Aus einem Material und aus einem Stück, könnte man ergänzen. Denn Experimente mit unterschiedlichen Kunststoffen führten zunächst zu Möbeln, die aus mehreren kleinen Teilen zusammengefügt oder einfach kleiner waren, da sich die Kunststofftechnik mit der Beherrschung großer Formen zunächst schwertat. Beim Kinderstuhl "K 1340" von Marco Zanuso und Richard Sapper von 1964 wie beim Stapelstuhl "Universale" von Joe Colombo (1965) werden die Beine separat gefertigt und angesteckt, ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Monobloc. Beide hat Kartell auf den Markt gebracht. Auch Henry Massonnets hyperbolisch geformter Hocker "Tam-Tam“ von 1968 gehört in diese Reihe. Bis in die 1980er Jahre wurde das Stück 14 Millionen Mal verkauft.

Wäre all das ein Thema für den Dokumentarfilmer, müsste spätestens jetzt Jens Thiel genannt werden. Er saß beim Eröffnungstalk als Experte auf dem Podium. Im Bericht der Augsburger Allgemeinen über die Vitra-Ausstellung heißt es: "Wer Monobloc sagt, muss auch Jens Thiel sagen." Der sei der "oberste Ehrenretter und Erforscher" dieses Plastikstuhls. Hauke Wendler nennt ihn nicht, außer im Abspann. Denn ein Schlüsseldokument von Wendlers Film ist ein Filmausschnitt, der von Thiel stammt. Dass Henry Massonnet Anfang der 1970er Jahre der Erste war, dem es gelang, robuste Kunststoffstühle aus einem Stück in größeren Stückzahlen zu fertigen, hatte Thiel herausbekommen. Noch zu Lebzeiten von Massonnet (der 2005 starb), besuchte er ihn in seiner Firma STAMP im französischen Nurieux und bekam das kleine Firmenmuseum unterm Dach zu sehen, in dem der Unternehmer und Erfinder seine wichtigsten Stücke, wie den "Fauteuil 300" verwahrte, jenen zentralen Referenzpunkt in der Geschichte der Monobloc-Gestaltung. Massonnet war kein Designer, entwarf aber viele seiner Möbel selbst. Zeitweise arbeitete er mit Pierre Paulin zusammen. Massonnet hatte die väterliche Kammfabrik zu einem innovativen Kunststoffhersteller verwandelt, er sammelte Kunst und war Bürgermeister seiner Gemeinde.

Von all dem erfährt man in Hauke Wendlers Film nichts. Ihm genügte es, würde man der hierzulande verpönten Sitzgelegenheit künftig mit etwas mehr Respekt begegnen. Seine filmische Reise führt in Episoden an die Nordsee, in die effiziente Produktionsstätte einer norditalienischen Familie, die sich der Perfektionierung des Monobloc-Stuhls verschrieben hat, ins Vitra Design Museum, zu einem Konstrukteur in Kalifornien, der zunächst einen Plastikstuhl in Einfach-Rollstühle einbaute und dank Spenden weltweit 1,2 Millionen davon verteilte, weiter nach Indien, wo ein Unternehmer die Zukunft des Kunststoffstuhls plant und erklärt, dass durch diesen das Sitzen für die Mittelschicht in seinem Land erst erschwinglich wurde. Ebenso begleitet Hauke Wendler Müllsammlerinnen in Brasilien, für die ein kaputter Plastikstuhl ein besonders wertvoller Fund ist, der mehr einbringt als andere Objekte und Materialien. Eindrucksvoll sind Bilder von Männern, die kaputte Kunststoffobjekte sortieren und mit Macheten zerhauen, um sie fürs Recycling vorzubereiten. Andere waschen den kleingehauenen Sekundärrohstoff, damit er zu Granulat und dann wieder zu einem Plastikstuhl werden kann. Es geht um Zwischentöne, Lebensentwürfe, Schicksale, die sich zur Botschaft verdichten: Ganz so einfach wie erwartet, ist das mit dem weißen Plastikstuhl auch wieder nicht!

Für manche schon: In der Hamburger Hafencity, stellt sich der Regisseur mit Megafon auf die Laderampe eines Lastwagens, ein improvisiertes Filmstudio. Dort motiviert er Passanten, sich über Plastikstühle und insbesondere den "Monobloc" zu äußern. Die Resultate sind zu sehen, bevor die große Reise beginnt. Die negativen Kommentare sind einhellig, ihre Bandbreite ist groß, was womöglich daran liegt, dass das Publikum auf dem Weg von und zur Elbphilharmonie befragt wird. Wer sich hier äußerst, empfindet den Stuhl als eine Zumutung – ästhetisch, praktisch, ökologisch und auch weil er "keinen Beitrag zur Kultur" leiste, wie ein besonders aufgebrachter Bürger zu Protokoll gibt. Einer darf einen zum Dreh mitgebrachten Stuhl gar kleinhauen. Hier sprechen Leute, die sich Besseres leisten können. Es fällt ihnen leicht, den Monobloc zu verabscheuen, während er überall sonst auf der Welt vielleicht nicht verehrt, aber immerhin doch gebraucht wird.

Installation "White Billion Chairs" von Tina Roeder, 2002/2009. Limitierte Edition, No. 10/33 befindet sich in der ständigen Sammlung des Vitra Design Museums

Jens Thiels Ansatz ist ein anderer. Für ihn ist der oftmals anonyme weiße Monobloc das "beste Möbel der Welt". So heißt auch ein kluger Essay, den Thiel 2004 in der Zeitschrift "Der Freund" veröffentlichte und der Zusammenhänge von Technologie, Material und Preisbildung verdeutlich. Zu dieser Zeit betrieb Thiel (bis 2007) den englischsprachigen Blog namens functionalfate.org, der rasch zum international wichtigsten Forum über den Monobloc-Stuhls wurde und bis heute in Webarchiven auffindbar ist. Er sieht sich als Verursacher von vielem, was Anfang der 2000er Jahre medial rund dem Monobloc-Chair geschah. Thiel sagt von sich, er sei jemand, der "große Themen macht und sie dann nicht umsetzt." So schrieb er mit am ersten Geschäftskonzept für Idealo und war in der Start-up-Szene aktiv, bevor andere ahnten, was das überhaupt ist. Seinen Aktivitäten voraus ging die Künstlerin Tina Roeder mit ihrem Projekt "White Billion Chairs".

Das Monobloc-Projekt labelt Hauke Wendler mit dem Zusatz "Der meistverkaufte Stuhl der Welt", Verlag und Filmverleih ergänzen das noch mit dem Superlativ "aller Zeiten". Ein Absolutheitsanspruch, der ins Leere läuft. Denn der Monobloc ist kein einzelner Stuhl mit milliardenschwerer Auflage, sondern ein Typus, ein Standard mit unendlich vielen Varianten, produziert überall auf der Welt. Dabei ist er einer permanenten Entwicklung und Effektivitätssteigerung unterworfen. Jens Thiel hat ihn einmal mit dem weißen T-Shirt verglichen. "Er ist die Krone der Effizienz einer Industriegesellschaft," schrieb er, "die unser Leben leicht und ungefährlich gemacht hat." Effizienz und Preis sind die Kriterien, mit denen dieser Stuhltypus sich von allen Wettbewerbern absetzt, das macht im Film Mateo Kries deutlich, Direktor des Vitra Design-Museums. Gegenüber anderen scheint dieser uneinholbar im Vorteil zu sein.

Handgeschnitzter Monobloc aus Ulmenholz von Maarten Baas BV, Pearl Lam Galleries, 2008
Ungleiche Stuhl-Liaison in Hamburg, Deutschland

Apropos Zahlen: 50 Millionen Mal verkaufte sich allein bis 1930 der Thonet No. 14, der Bugholzstuhl, der 1859 die Epoche gestalteter Industrieprodukte einleitete und als Kaffeehausstuhl weltweite Verbreitung fand. Seither kamen etliche Millionen hinzu, noch heute wird er im hessischen Frankenberg als Thonet 214 gefertigt. Und auch für den "Louis Ghost" einen Monobloc aus transparentem Polycarbonat von Philippe Starck 2002 für Kartell entworfen, gibt es Daten: In zwanzig Jahren seit Produktionsstart wurde das Möbel, das an spätbarocke Vorbilder aus der Epoche Ludwigs des XV. erinnert, 20 Millionen Mal verkauft. Anders als die meist namenlosen Monoblocs spielt dieser Stuhl in der Liga exklusiver Markenware, die Massenfertigung nicht ausschließt. Ein Exemplar kostet heute zwischen 260 und 300 Euro. Interessant am "Monobloc" ist, wie er zu einer Art markenloser Marke werden konnte, die so gar nicht für Distinktion, Unterscheidbarkeit und Prestige stehen will, sondern für Gebrauchstauglichkeit in nicht weiter definierten Szenarien. Insofern ist sie – was Film und Begleitmedien leider nicht thematisieren – ein Pfahl im Fleisch eines konventionellen Designverständnisses.

Front Design, Leder und Plastikstuhl, Installation Tensta Konsthall, 2005

Zwar bewundert der Filmemacher im Vitra Design Museum die Farben der innovativen Modelle, die Gestalter erdacht haben. Deren Ideen interessieren ihn aber so wenig wie die Entwicklungslinien des Kunststoffstuhls. Auch die fortschreitende Erleichterung des Sitzmöbels durch neue Materialien, ausgehend vom zerlegbaren Thonetstuhl aus Bugholz über den französischen Metallblechstuhl der 1920er Jahre, die evolutionäre Vorläufer sind, beachtet er nicht. Dass die Film-Dokumentation "Monobloc“ keine Designgeschichte sein will und kann, versteht sich von selbst, dass sie Ursprünge und Entwicklungen aber weitgehend ignoriert, macht das gesamte Projekt fragwürdig. Vor allem dann, wenn Fakten durch Weglassen verzerrt werden.

Eine der wichtigsten Stories, die Hauke Wendler erzählt, ist die Verbindung zwischen drei Personen. Da ist der Pastor Francis Mugwanya, der früh an Kinderlähmung erkrankte und erst mit 12 Jahren einen Rollstuhl erhielt. Seine Hilfsorganisation "Father’s Heart Mobility Ministry“ verteilt Rollstühle an Bedürftige. Zehntausenden hat er bislang damit zu mehr Mobilität und einem besseren Leben verhelfen können. Annet Nnabulime ist eine von ihnen. Die ehemalige Ladenbesitzerin, deren Beine seit Jahren gelähmt sind, lebt am Viktoriasee. Die junge Großmutter war auf permanente Unterstützung ihrer Familie angewiesen, bis sie von Mugwanya einen Rollstuhl erhielt. Die christliche US-Hilfsorganisation "Free Wheelchair Mission" ließ ihr einen "Gen_1" zukommen, sie ist beglückt, welche Bewegungsfreiheit sie nun wieder hat. Entworfen hat ihn Ingenieur Don Schoendorfer, der vor über 20 Jahren einen Rollstuhl konstruierte, der nicht mehr als 30 Dollar kosten sollte. Im örtlichen Einkaufszentrum kaufte er die Komponenten ein. Als Sitz wählte der Konstrukteur einen "Monobloc"-Chair mit verkürzten Beinen, was bereits die Monobloc-Community von functionalfate.org begeisterte. Inzwischen allerdings heißt es auf der Website der Hilfsorganisation, das Urmodell sei, "now retired“. Und man erfährt dort auch: Die Nachfolgemodelle "Gen_2" und "Gen_3" mit blauem Metallrahmen und ohne Monobloc-Einsatz, die leichter oder faltbar sind, entstanden 2009 und 2013, also vor Drehbeginn. Im Film werden sie ohne textliche Erwähnung gezeigt, in seinem Buch sind sie auf einer Abbildung zu sehen.

Wie schrieb Jens Thiel im Essay des Jahres 2004? "Das Weiß des Monoblocks lädt ein, ihn als Projektionsfläche für eigene Weltdeutungen zu nutzen und dabei je nach vorgefasster Absicht unterschiedliche Richtungen einzuschlagen.“ Hauke Wendler hegt mit seinem Projekt gute Absichten. Bei seiner Bildungsreise können wir ihm über die Schulter sehen, vielleicht ein bisschen klüger werden. Doch das Biest unter den Sitzmöbeln ist so leicht nicht in den Griff zu bekommen.

Sibylle Hofter: Modell Aurora 500 Millionen Plastikstühle – 31.1.-6.4.1997, Münchner Stadtmuseum

Ergänzung: In einer früheren Version hieß es, vor Jens Thiel habe sich "lediglich" Tina Roeder mit dem Monobloc-Stuhl befasst. Anfügen lässt sich, dass darüber hinaus die Künstlerin Sibylle Hofter 1997 ihre Ausstellung "Aurora" (mit Begleitbuch "Modell: Aurora – 500 Millionen Plastikstühle") im Münchner Stadtmuseum zeigte. In der Reihe "Das kleine Fernsehspiel" des ZDF erschien ihr 99-minütiger Film über Monobloc-Stühle, an dessen Dreh und Schnitt Hellmuth Costard mitwirkte.

Tipp: Am 19. Februar 2022 um 19 Uhr wird "Aurora" im Berliner Café Manstein (Mansteinstraße 4, 10783 Berlin-Schöneberg, Tel.: 030 – 544 64 986) gezeigt. Der Besuch ist nach geltenden Coronaregeln möglich. Zuschauen können ca. 20 Personen, frühzeitige Anmeldung wird empfohlen. Bei Bedarf wird ein Ausweichtermin organisiert.

Monobloc
Hatje Cantz Verlag
Text(e) von Hauke Wendler, Gestaltung von Rutger Fuchs
Deutsch
Februar 2022, 192 Seiten, 120 Abb.
ISBN 978-3-7757-5187-2

22 Euro

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