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Robert Wilson

Den Moment balancieren

Robert Wilson ist eine Ikone der Theaterregie und hat mit Licht einzigartige Szenerien gestaltet. Wir haben ihn in Mailand getroffen, um über seine Installation "Mother" zu sprechen, wie über Konstruktionen, gebaut aus Zeit und Raum.
08.05.2025

Anna Moldenhauer: Wenn Sie eine Ausstellung planen oder ein neues Werk erstellen, starten Sie zuerst mit Überlegungen zum Licht. Warum ist das so und welche Gedanken gehen Ihnen währenddessen durch den Kopf?

Robert Wilson: Ich sage immer, ohne Licht gibt es keinen Raum. Licht schafft Raum. Das ist in der Architektur wie im Theater der Fall. Dennoch wird es oft an letzter Stelle bedacht – im Theater schreibt jemand ein Stück, dann wird entschieden es zu inszenieren und dann wird es gestaltet. Das Bühnenbild sollte meiner Ansicht nach architektonisch sein, eine Ausstattung braucht es nicht. Licht sollte nie eine Idee sein, die man erst nachträglich hinzufügt.

Anlässlich des Salone del Mobile 2025 haben Sie eine Vision von Michelangelos Skulptur "Pietà Rondanini" geschaffen, an einem eigens dafür vorgesehenen Platz: dem "Spanischen Hospital" im Sforzesco-Schloss. Das Werk mit dem Titel "Mother" wird von den Klängen von Arvo Pärts "Stabat Mater" begleitet. Was hat Sie für dieses Werk inspiriert?

Robert Wilson: Der Salone hat mich um ein Werk gebeten, dass alle Bereiche zeigt, in denen ich arbeite. Die Anfrage hat mich geehrt. Für die Veranstaltung in der Scala gab es auf der Bühne somit Licht, Stühle, Architektur, Musik. Ein Programm mit insgesamt fünf Szenen aus fünf Opernproduktionen von mir. Zudem habe ich die "Pietà Rondanini" als Installation umgesetzt, in einem nicht-theatralischen Raum. Darüber hinaus habe ich im Rahmen des Salone del Mobile einen Vortrag gehalten, der sich speziell mit Lichtkonzepten befasst, eine Diskussion mit DesignerInnen und ArchitektInnen über Licht. Ich arbeite seit über 50 Jahren im Theater und in Museen. Und in diesen 50 Jahren hat sich das Licht enorm verändert. Früher hatten wir Glühlampen, die man dimmen konnte und die ein warmes Licht spendeten. Wenn man heute die LED-Lampen dimmt, sind sie kalt. Sie bleiben kalt. Eine der Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, ist die Frage, wie man diese energiesparenden Lampen dimmen kann, damit sie warm leuchten. In meinem Architekturstudium wurden wir unter anderem von Louis I. Kahn unterrichtet. An meinem ersten Tag hielt er einen Vortrag und sagte, dass wir Studierende mit dem Licht beginnen sollten. Dieser Satz hat mich wie ein Hammer getroffen und ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben.

Der Satz ist großartig, aber in gewisser Weise auch abstrakt. Wie haben Sie das Konzept dann weiterentwickelt?

Robert Wilson: Es ist eine Struktur aus Zeit und Raum. Soll es lange dunkel sein oder lange hell, oder ist es eine Mischung aus kaltem und warmem Licht? Kommt das Licht von oben? Von der Seite? Meine Arbeit ist vor allem im Theater bekannt, da sind auch die Stimmen, die Musik wichtig. Wie kann mir das Licht also helfen besser "zu hören"? Schließen Sie die Augen. Sie werden Dinge hören können, die sie zuvor während unseres Gespräches nicht gehört haben.

Das stimmt, man ist sofort konzentrierter, der Geist ist noch aktiver auf die Umgebung gerichtet, weil ein Sinn fehlt. Auch während der Vorführung von "Mother" im Sforzesco-Schloss war der Raum zeitweise komplett abgedunkelt. Das Publikum wurde mit dem Schwinden des Lichtes zunehmend leiser und konzentrierter.

Robert Wilson: Man wird also nicht abgelenkt?

Genau.

Robert Wilson: Das meine ich. Wie kann ich etwas Visuelles schaffen, das mir hilft, besser zu hören als mit geschlossenen Augen. Das ist die Herausforderung. Das Einzige, was konstant ist, ist die Veränderung. Diese Abfolge von Geräuschen, die wir gerade während unseres Gespräches um uns herum wahrnehmen, wird es so nie wieder geben. Sie ist einzigartig. Wenn man das Licht ausbalanciert, wird man sich dieser ständigen Veränderung bewusster.

Mit ihren atmosphärischen Arbeiten haben Sie international neue Perspektiven geschaffen, wie in der Theater- und Performancekunst. Welche neuen Impulse wollen Sie dem Publikum der Mailänder Möbelmesse mit ihrer Arbeit "Mother" vermitteln?

Robert Wilson: Ich habe keine Botschaft. Die Aufgabe eines Künstlers ist es, zu sagen, was es ist, statt zu sagen, was es nicht ist.

Gibt es einen Aspekt von Beleuchtung, von dem sie sich wünschen würden, dieser würde in Design und Architektur mehr berücksichtigt?

Robert Wilson: Ja – die richtige Balance zwischen künstlichem und natürlichem Licht. Museen wie die Menil Collection von Renzo Piano in Houston schaffen das sehr gut, dort lässt sich beispielsweise das natürliche Licht über Lamellen an der Decke steuern. Ich bin in Texas aufgewachsen, dort ist das Sonnenlicht oft sehr intensiv. Es braucht die Kontrolle beider Lichtquellen, aber auch die Überlegung wie das Gebäude oder das Werk zu unterschiedlichen Zeiten wirkt. Wie sieht es in der Mittagssonne aus? Wie bei Regen? Wie wirkt es im Vollmond? Wie bei einem Viertelmond? Ich erinnere mich, dass ich vor Jahren in Colorado war und das Denver Art Museum von Gio Ponti gesehen habe. Nachts war der Bau wunderschön, er hatte sich Gedanken darüber gemacht. Ich stelle mir das Licht wie eine Batterie vor, die den Tag über unter wechselnden Bedingungen läuft. Manchmal ist es ein grauer Tag. Manchmal ist es ein strahlender Tag. Das ist eine Herausforderung.

Haben wir dieses Gespür für das Licht in der modernen Architektur verloren?

Robert Wilson: Ich denke schon. Oft ist das Licht nur Dekoration, wie in dieser Hotellobby, in der wir gerade sitzen. Gegen Dekoration ist an sich nichts einzuwenden, aber man sollte zuerst mit der Architektur beginnen und dann die dekorativen Elemente hinzufügen. Wenn die Beleuchtung durchweg dekorativ ist, wurde nicht über das Leben nachgedacht. Lichtquellen sollten blendfrei sein, vor allem wenn sie dazu dienen etwas in Szene zu setzen. In einem grellen Licht kann man keine Details erkennen, das Design und die Architektur lässt sich darin nicht betrachten.

Mit Blick auf das Möbeldesign: Warum spricht Sie der Aufbau eines Stuhls besonders an?

Robert Wilson: Mir gefällt, was die Schriftstellerin Gertrude Stein gesagt hat als sie gefragt wurde: "Miss Stein, was halten Sie von moderner Kunst?". Ihre Antwort: "Ich schaue sie mir gerne an." In dem Sinne schaue ich mir gerne Stühle an, vor allem wenn sie frei im Raum stehen, denn dann beginnt man sie als Skulpturen wahrzunehmen. Wie "Frassino Tinto Black & White Aswood Superleggera Chair", den Gio Ponti 1957 für Cassina entworfen hat. Er ist dafür gemacht aus allen Blickwinkeln betrachtet zu werden und nicht nur von einer Seite. Dieser Sinn für Ästhetik ist derselbe, der beim Entwerfen eines Gebäudes zum Tragen kommt. Er ist inhärent. Der Choreograf George Balanchine sagte zudem Ballett zu choreografieren sei wie einen Stuhl mit handwerklichem Geschick zu bauen.

Sie arbeiten als Regisseur, Bühnenbildner, Architekt, Designer, Maler. Was braucht es, um sich so leichtfüßig und vielseitig zwischen den Disziplinen bewegen zu können?

Robert Wilson: Ich sehe keinen Unterschied, ob man Ballett tanzt, Mode designt, Opern singt oder Gebäude entwirft. Man zeichnet immer auf eine Weise eine Linie. Es gibt nur zwei Arten von Linien, eine Gerade und eine Kurve. Die innere Struktur der Disziplinen ist so jeweils dieselbe.

In Ihren Werken wirkt die Zeit und der Raum dehnbar. Man lernt in diesen Stille und Statik auszuhalten, auf die Details zu achten und der eigenen Emotion nachzuspüren, die das Werk in einem selbst auslöst. Sie schaffen eine Welt zwischen den Welten, die wie ein Traum wirkt. Die eine intensive Ästhetik hat, euphorisch und hell bis mystisch und dunkel sein kann. Welches innere Fenster möchten Sie dem Publikum mit Ihrer Arbeit öffnen?

Robert Wilson: Das ist schwierig zu sagen. Wie schafft man Raum? Ich habe gestern mit einer Dame zu Mittag gegessen, die "Mother" gesehen hatte, und sie sagte: "Ich möchte Ihnen danken. Sie haben mir Zeit gegeben, über einige Dinge nachzudenken, die mich beschäftigt haben." In geschäftigen Städten wie Frankfurt am Main oder Mailand gibt es nur sehr wenige Orte, an denen man Zeit zum Nachdenken hat. Theater und Installationen können uns diese Räume schaffen. Mentale Räume zum Nachdenken und Träumen. Wir sind in unserer Umgebung die meiste Zeit so stark mit Reizen konfrontiert, dass unsere Sinne betäubt sind. Das ist nicht unbedingt schlecht, denn oft muss man Sinneseindrücke wie Geräusche ignorieren können – ich lebe in New York City, wenn man dort in die U-Bahn steigt, ist es unerträglich laut. Die meisten Menschen hören das nicht mehr, sie sind tief in sich selbst versunken.
Sie haben gerade mit den Augen geblinzelt. Was haben Sie gesehen?

Das kann ich nicht sagen, der Moment verfliegt zu schnell.

Robert Wilson: Stimmt, es geht sehr schnell, aber vielleicht haben Sie für einen kurzen Moment geträumt. Das Negativ ist ein Teil des Hörens und Sehens, innerlich wie äußerlich. Es ist die Möglichkeit ein Gleichgewicht herzustellen. Im Theater ist die Zeit plastisch, je langsamer man Zeit und Raum konstruieren kann, desto mehr kann man sie dehnen. Es ist die Option in einer anderen Welt zu hören und zu sehen. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich Verdis Otello und Verdi inszeniert. Otello beginnt mit einem Sturm. Sehr bombastisch, sehr laut. Dazu kam ein siebenminütiger Film über den Tod eines Elefanten, der in Stille stattfand. Das Publikum sah sich also einen siebenminütigen Film in Stille an, und dann kam Verdis Sturm. Dieser wirkte noch lauter, weil man zuvor sieben Minuten lang in Stille gewesen war. Bei der Installation "Mother" bleibt es die ersten zwei Minuten und 23 Sekunden dunkel. Danach wird die Skulptur Stück für Stück erkundet. Es ist eine Zeit-Raum-Konstruktion. Es sind also Entscheidungen, die man in Zeit und Raum trifft, und sie sind künstlich konstruiert. Das ist das Interessante als KünstlerIn, dass man Zeit und Raum plastisch strukturieren kann.

Sie haben auch durch Ihren Adoptivsohn eine besondere Verbindung zu behinderten Menschen. Wie nehmen diese aus Ihrer Erfahrung die von Ihnen geschaffene Raum- und Zeitstruktur wahr?

Robert Wilson: Ich habe sie nie als Menschen mit Behinderung betrachtet, sondern als besonders begabt. Von Raymond Andrews habe ich gelernt, dass Gehörlose Geräusche fühlen und in diesem Sinne hören können. Er hat mir beigebracht, Körper, Zeichen und Signale als Sprache zu lesen. Das war eine lehrreiche Erfahrung. Oft wurde das fälschlicherweise als Therapie angesehen, aber das war es überhaupt nicht. Im Fall von Christopher Knowles war ich völlig fasziniert von seinem Verstand und seiner Fähigkeit, große Zusammenhänge schnell zu erkennen. Er hatte ein phänomenales Verständnis von Zeit und Raum, über das ich nicht verfügte. Auch für mich war es eine Lernerfahrung – sowohl Christopher als auch Raymond haben mein Leben bereichert. Ich habe nie versucht, sie zu verändern, sondern sie so zu akzeptieren, wie sie sind.

Wir leben in sehr bewegten Zeiten, die von schnellen Umbrüchen und vielen Ängsten geprägt ist. Die Weltordnung und das Weltklima, wie wir es kannten, löst sich zusehends auf. Inwiefern lassen Sie dieses Chaos unserer Realität in ihre Werke einfließen?

Robert Wilson: Das ist auch eine Frage der Balance. Wir müssen sie zulassen, das ist alles. Schauen Sie: Draußen vor dem Gebäude steht ein Baum, er hilft das Gebäude zu sehen und das Gebäude hilft den Baum zu sehen. Das Ganze ist eine Choreografie: Die Menschen, die auf dem Gehsteig laufen, der Autos, die auf der Straße fahren, dem starren Gebäude und den sanften Bewegungen der Blätter am Baum. Alles passiert gleichzeitig. Im klassischen griechischen Theater gibt es einen Protagonisten und einen Antagonisten sowie einen Chor. Im klassischen Ballett gibt es eine Primaballerina und ein Corps de ballet. Die Kunst besteht darin, diese natürliche Balance künstlich zu konstruieren. In der Musik kann man Szenen parallel in unterschiedlichen Tempos erzeugen. Jedes Gegenteil trifft auf sein Gegenteil. Man kann zudem von einem zum nächsten wechseln, das nennt man Thema und Variation. KomponistInnen, ChoreografInnen, ArchitektInnen nutzen das. Es ist eine Konstruktion, die sich in der letzten Sekunde noch ändern kann. Jede Entscheidung bewirkt eine Veränderung. Was kommt zuerst? Was kommt zuletzt? Ein Beispiel: Die Balletttänzerin Margot Fonteyn war 43 Jahre alt, als sie mit Rudolf Nureyev auftrat, der zu der Zeit 23 Jahre alt war. Das Publikum applaudierte stehend 30 Minuten nach ihrem Auftritt, aber sie sagte zu ihm, nochmal werde ich so nicht mit dir tanzen wollen. Warum? Er hatte die Balance nicht gehalten, ihr keinen Raum für kleine Pausen gegeben, die aber mit Blick auf den unterschiedlichen Energiehaushalt der beiden wichtig gewesen wären. Es geht um das Gesamtbild, die Zeit und den Raum gut zu nutzen. Zu wissen, was man erreichen möchte und was es dafür braucht. Versuchen Sie sich das vor Augen zu halten, wenn Sie im Theater sind. Es ist eine Gesamtkonstruktion aus Zeit und Raum.

Die Kunst ist das Leben von Robert Wilson, und er gestaltet sie seit Jahrzehnten universell wie unkonventionell: Als Theaterregisseur, Maler, Designer, Architekt und Autor. Für das Kulturprogramm des Salone del Mobile in Zusammenarbeit mit der Stadt Mailand | Kultur im Museo della Pietà Rondanini – Castello Sforzesco hat er "Mother" geschaffen, eine Installation, die Michelangelo Buonarrotis Werk gewidmet ist. Die ist noch bis zum 18. Mai im Museo della Pietà Rondanini - Schloss Sforzesco in Mailand zu erleben.

9 bis 18 Uhr
Piazza Castello, 20121 Milano MI, Italien

Projekt kuratiert von Franco Laera
Produktion Change Performing Arts
Reservierung auf Vivaticket

Mother by Robert Wilson | Salone del Mobile.Milano 2025