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Big Bang bis BIG

Think BIG: Bjarke Ingels gibt sich bei seiner neuen Ausstellung in Kopenhagen nicht mit Kleinigkeiten ab. Ein Rundgang
von Fabian Peters | 02.07.2019

Ein warmer Freitag in Juni 2019: In einem Kopenhagener Stadtbus drängen sich zwei klar unterscheidbare Gruppen zumeist junger Leute zusammen. Der eine Teil der Passagiere trägt Metal-T-Shirts und martialische Tätowierungen, der andere Skier und Snowboards. Unterwegs sind sie zu zwei Publikumsmagneten, die voneinander nur einen Steinwurf entfernt sind: das Rockfestival "Copenhell" und der neue Skihang "Copenhill". Während das Festival bereits seit 2010 Musikfans an den Stadtrand von Kopenhagen lockt, ist die künstliche Skipiste eine brandneue Attraktion. Sie gehört zu einem neuen Kraftwerk, das nach den Plänen von BIG Architekten errichtet wurde und das den Müll Kopenhagens in Elektrizität und Fernwärme umwandelt. Das Bauwerk mit den zwei Funktionen ist typisch für die Architektur von Bjarke Ingels und seinem Team. Schon bei seinem Projekt "Bjerget", das 2008 in Ørestad, einige Kilometer entfernt vom Bauplatz des "Copenhill", fertiggestellt wurde, sattelte Ingels eine Terrassenwohnanlage auf ein Parkhaus. Es war sein Durchbruch als Architekt.

Das neue Kraftwerk ist eine an vielen Stellen der Stadt sichtbare Landmarke, auch wenn der Bau einige Kilometer außerhalb des Stadtzentrums liegt. Man hat gut daran getan, ihm eine überzeugende Gestalt zu verleihen. Und so wedeln nun bei weit über zwanzig Grad Außentemperatur mehr oder minder versierte Skifahrer die mit Kunststofffolie belegte Piste herunter, untermalt von den Bässen, die vom "Copenhell"-Festival herüberdröhnen.

Himmel und Hölle lagen bei dem Kraftwerksprojekt auch in anderer Hinsicht nah beieinander: Ursprünglich sollte der Entwurf neben der Skipiste mit einer weiteren Sensation aufwarten. Der Schornstein sollte statt einer permanenten Rauchfahne von Zeit zu Zeit Rauchringe ausstoßen – und zwar immer dann, wenn das Kraftwerk eine Tonne CO2 emittiert hätte. Umsetzen sollte diese Idee ein Team um den Tüftler Peter Madsen, einer Art dänischem Daniel Düsentrieb, der unter anderem an Raketenprojekten arbeitete. 2017 gelangte Madsen zu trauriger Berühmtheit, als er die Journalistin Kim Wall in einem selbstgebauten U-Boot ermordete. Das Rauchringprojekt wurde nicht verwirklicht - aus finanziellen Gründen. Der 120 Meter hohe Schornstein qualmt heute ganz konventionell vor sich hin. Nach Angaben von BIG besteht aber die Absicht es nachzurüsten, sollten irgendwann ausreichend Geldmittel zur Verfügung stehen.

Das neue Müllheizkraftwerk ist nicht völlig unumstritten. Es sei überdimensioniert für den lokalen Bedarf, heißt es. Nicht zuletzt die Architekten hätten dies unterstützt, um genug Fläche für ihren Skihang zu haben. Lokalpolitiker hätten dagegen ein deutlich sichtbares Wahrzeichen als Publikumsattraktion schaffen wollen. Kein ganz abwegiger Gedanke in einer Zeit, in der Stararchitekten gern für Leuchtturmprojekte verpflichtet werden. BIG mit seinen inzwischen rund 550 Mitarbeitern ist längst in die Liga der Zaha Hadids, Norman Fosters oder Herzog & de Meurons aufgerückt.

Auch mit ihrer neuen Ausstellung "Formgiving" im Dansk Arkitektur Center DAC hat das Architekturbüro eine solche Prestigeaufgabe übernommen. Das Architekturmuseum zog im vergangenen Jahr in das neue Mehrzweckgebäude BLOX im Zentrum von Kopenhagen – ein Entwurf von Bjarke Ingels ehemaligem Arbeitgeber OMA. Für das zweite Jahr am neuen Ort plante die Institution seine erste Blockbuster-Ausstellung. Das man sich dafür an BIG wandte, ist nur natürlich. Nicht nur ist der smarte Ingels fraglos derzeit Dänemarks berühmtester und gefragtester Architekt, er hat auch das Selbstbewusstsein, nomen est omen, im ganz großen Maßstab zu denken. In diesem Fall: in weltgeschichtlichem Maßstab.

Wer am Beginn des Rundganges die Treppen zu den Ausstellungsräumen hinaufschreitet, den begleitet ein Zeitstrahl vom Urknall bis in die Gegenwart. BIG und Ingels wollen uns hier auf Veränderung als ewige Konstante hinweisen. Man könnte aber auch zu einer anderen Lesart gelangen: Am vorläufigen Ende der Evolution steht als Ergebnis die Architektur von BIG. Und tatsächlich präsentiert Ingels seine Bauten stets mit eindrucksvollen grafischen Schaubildern, dass der jeweilige Entwurf objektiv die beste aller möglichen Lösungen ist. Ingels kometenhafter Aufstieg – er ist erst 44 Jahre alt – beruht genau auf dieser Überzeugungskraft. Unzweifelhaft hat seine unkonventionelle Art zu denken, Funktionen zu kombinieren und seine Bauten um Erlebnisräume zu bereichern, ihn zur prägenden Gestalt der zeitgenössischen Architektur gemacht. Ebenso hat er aber auch die Kommunikationsstrategien seiner Zunft auf den Kopf gestellt. Etwa mit seinem Comicbuch "Yes is More", in dem er in Sprechblasen seine Entwurfsprinzipien erläutert. Ingels ist medial omnipräsent: Im Kino, bei Netflix, in ungezählten Artikeln und natürlich in seiner Ausstellung, wo er uns gleich an zwei Stellen in Lebensgröße auf Monitoren gegenübertritt.

Im Vergleich mit der erst drei Jahre zurückliegenden letzten Werkschau "From Hot to Cold" ist die weitere Expansion des Büros unübersehbar. Und auch der Fokus der Präsentation hat sich verschoben. Die Vorgängerschau bemühte sich, das Prinzip der BIG-Architektur an jedem einzelnen vorgestellten Projekt unter Beweis zu stellen. Der Tenor: Wir finden für jeden Ort der Welt, von den Wüsten des Mittleren Ostens bis zum Polarkreis, eine Lösung jenseits des bisher Gedachten – die allen Erfordernissen optimal Rechnung trägt und darüber hinaus noch verblüffende Zusatznutzen schafft. "Formgiving" setzt viel stärker auf optische Überwältigung des Besuchers. Der hohe Ausstellungssaal mutet mit seinen unzähligen Modellen und mit von der Decke hängenden Bildertafeln – dreifach, vierfach, fünffach übereinander – kaleidoskopisch an. Die Aussage dieser Informationsflut lautet: BIG ist so erfolgreich, dass es fast das Wahrnehmungsvermögen übersteigt. Jedes einzelne Projekt vorzustellen? Nicht mehr möglich, es sind zu viele! Stattdessen werden alle Entwürfe unter zehn Oberthemen subsumiert. "Pool", "Show", "Lift", "Host", "Respond", "Adapt", "Merry", "Grow", "Bond" und "Productize" sind sie überschrieben. Jedes hat eine Farbe, jedes ein Areal im Saal, ablesbar am Fußboden.

Hinter der Überschrift "Merry" etwa verbirgt sich die Idee, verschiedene Funktionen miteinander zu verbinden. Hier ist das eindrucksvolle Modell der Spitze von Manhatten zu sehen, um die die Architekten gerade eine gewaltige Flutschutzanlage ziehen, die gleichzeitig ein neuer Park mit zahlreichen Freizeitangeboten sein wird. Auch der zurzeit im Bau befindliche Galeriebau "The Twist" in der Nähe von Oslo ist hier eingeordnet. Er ist gleichzeitig eine Flussbrücke und verbindet so zwei Teile eines Skulpturenparks miteinander. Und natürlich fällt auch "Copenhill" in diese Kategorie.

"Lift" beschäftigt sich mit Bauten, bei denen die Erschließung der Höhendimension eine besondere Rolle spielt – allen voran die verschiedenen Hochhausprojekte, an denen BIG zurzeit arbeitet. Etwa das 400 Meter hohe Two World Trade Center am Ground Zero, in das die Medienkonzerne 20th Century Fox und News Corporation einziehen sollten. Ähnlich dem gerade in der Fertigstellung befindlichen Omniturm in Frankfurt sollen bei diesem Entwurf durch Vor- und Rücksprünge Freiflächen in luftiger Höhe geschaffen werden. Allerdings ist die Zukunft des Projektes inzwischen ungewiss, weil die zwei Mediengiganten als Mieter abgesprungen sind. Gerade eröffnet wurde hingegen der Wohnkomplex AARhus, zwei pfeilförmige Apartmenthochhäuser, die direkt an das Strandbad anschließen, das ebenfalls nach einem Entwurf von BIG errichtet wurde. Beim "AARhus" hat das Büro seine Typologie des Hofhauses weiterentwickelt. Der Neubau ordnet sich dabei zwischen niedrigeren Anlagen wie etwa zuletzt dem 79 & Park in Stockholm und dem "Courtscraper" VIA 57 West in Manhattan ein. Eine andere Variante haben die Architekten für das Sluishuis am Stadtrand von Amsterdam entwickelt. Bei dem ebenfalls direkt am Wasser gelegenen Bau stellen sie der für BIG charakteristischen an einer Blockecke heruntergezogenen Dachlinie eine "hochgezogene" Ecke gegenüber, sodass dort ein gewaltiges Tor zum Innenhof entsteht. Durch dieses Tor können Boote hindurchfahren und in der kleinen Marina im Hof vor Anker gehen. In der Ausstellung ordnen die Architekten dieses Projekt dem Themenfeld "Host" zu, ebenso wie das soeben fertiggestellte MÉCA in Bordeaux, ein Kulturzentrum direkt an der Garonne. Dessen auffälligstes Merkmal ist ein gewaltiger Durchgang in seiner Mitte, der zugleich als geschützte Bühne und Ausstellungsfläche verwendet werden kann.

Der vielleicht spannendste Themenbereich der Ausstellung verbirgt sich hinter der Überschrift "Pool", ein Kapitel bei dem es nicht um das Baden, sondern um das "poolen" von Ideen und Schaffenskraft geht. Hier präsentiert BIG seine verschiedenen Officeprojekte für Google, hier kann aber auch ein erster Blick auf das in Planung befindliche neue BIG-Hauptquartier geworfen werden. Für sich selbst haben Ingels und seine Mitarbeiter einen Innenraum aus sich überlappenden Halbetagen entwickelt, der zahlreiche Blickbeziehungen zulassen soll. In Bezug auf das komplexe Raumerlebnis, das hier entstehen soll, verweisen die Architekten auf die berühmten Architekturerfindungen Piranesis als Vorbild – ein für BIG ungewohnter historischer Bezug und ein seltener Hinweis daraus, dass natürlich auch die Architektur von Bjarke Ingels nicht allein aus der Funktion entwickelt ist.

Selbstverständlich spielen ästhetische Überzeugungen bei seiner Formensprache eine wichtige Rolle. Je nach Blickwinkel ist es ehrenhaft oder etwas unaufrichtig, diesen Aspekt kaum zu betonen. Man kommt jedenfalls nicht umhin zuzugeben, dass trotz der ungeheuren Menge an Projekten, die das Büro gerade plant oder umsetzt, die Innovationskraft von BIG nach wie vor bemerkenswert ist. Die entwickelten Typologien werden weiterentwickelt und können immer noch in regelmäßigen Abständen mit wirklich neuen Lösungen überraschen. Am ehesten droht Stillstand durch die stetige Wiederholung der "Pixelästhetik" – gegeneinander verschobene Kuben, die zu pyramidalen, gekrümmten und gebogenen Figuren aufeinandergeschichtet werden. Man hat sie 2016 an Ingels Serpentine Pavilion in London gesehen, bei verschieden Hochhausentwürfen, natürlich beim Lego House in Billund und nun sogar als Schuhregal für das Pariser Kaufhaus Galeries Lafayette. Hier droht die Gefahr, in Formalismus zu verfallen, gerade weil die Nachfrage nach Signiture-Architektur so groß ist und potenzielle Auftraggeber ihren eigenen typischen Bjarke-Ingels-Bau wollen.

Sorgen, die Ingels gewiss nicht teilt. Sein Blick ist weit in die Zukunft gerichtet, wo neue Technologien seines Erachtens ganz zwangsläufig zu einer neuen Architektur führen werden. So plant man bei BIG schon einmal eine extraterrestrische Siedlung, mit deren Modell der Rundgang durch "Formgiving" endet: Vom Urknall zu den Sternen. Bis Ingels auf anderen Planeten bauen kann wird wohl noch etwas Zeit vergehen. Vielleicht geht er in der Zwischenzeit in Kopenhagen Skilaufen.

Formgiving

Dansk Arkitektur Center
Bryghuspladsen 10
1473 Kopenhagen

bis 5. Januar 2020

Öffnungszeiten:

täglich 10 bis 18 Uhr
donnerstags 10 bis 21 Uhr