top
Raw Edges: Yael Mer und Shay Alkalay

PORTRAIT
Grenzenlos kreativ

"Wir haben ein großes Bedürfnis zu experimentieren", so Yael Mer. Sie und Shay Alkalay gründeten 2007 das Studio Raw Edges und überraschen seitdem mit ungewöhnlichen Ansätzen im Design.
von Anna Moldenhauer | 29.04.2020

"In der Ausbildung zum Produktdesigner lernt man oft, dass man erst loslegen soll, wenn man eine Idee hat. Wir starten stattdessen von einer leeren Seite und entwickeln spielerische Dialoge zwischen uns und dem Material", so Yael Mer. Die Ergebnisse sind neue Typologien von Objekten, Möbeln und Installationen. Leichtfüßig springt das israelische Designerduo zwischen den Disziplinen hin und her. Der Spruch "Alle sagten: Das geht nicht! Dann kam einer, der wusste das nicht und hat´s gemacht" könnte von ihnen stammen. Wie bei "Fine Cut" für Really by Kvadrat – ein Tisch aus Textil- und Akustikplatten, für die Textilabfälle recycelt werden. Jeansreste und Baumwollfasern sorgen für eine Färbung in Blau und Weiß, die wie gemalt wirkt. Oder die rhombenförmigen Porzellanfliesen "Tex" für Mutina, deren Struktur sich aus verschiedenen Oberflächen zusammensetzt, so dass sie auf den ersten Blick wie ein Teppich wirken. Bei "BackStitch" für GAN setzen Raw Edges hingegen den Part eines handbestickten Teppichs in Szene, der sonst verborgen bleibt – das unregelmäßige Muster von Stichen, das seine Rückseite ziert. Der künstlerische Effekt überrascht und stellt eine Verbindung zwischen Objekt und Betrachter her, eine Leistung, die die Arbeiten von Yael Mer und Shay Alkalay eint. Produkt und Protoyp, funktional und experimentell. Statt die Spuren des Prozesses zu verbergen, feiert Raw Edges sie als Teil des Ganzen.

Holz kochen

Damit eine Idee es schafft die beiden über Jahre zu beschäftigten, muss sie viele Facetten haben. Wie das Färben von Holz: 2009 kreierten Raw Edges für diverse Stores von Stella McCartney einen Bodenbelag aus handgefärbtem Parkett, das kombiniert zu dynamischen Mustern dem Klassiker eine neue, frische Note gab. Inwieweit es möglich ist, die Maserung des Holzes zu nutzen, um Farbe direkt in die Holzabschnitte zu transportieren, erforschten sie anschließend in ihrer Installation "Chatsworth House". Dafür entwickelten sie die "Endgrain-Technik" – das Holz wird quer zur Faser geschnitten, um die farbige Beize tief eindringen zu lassen, in der es gekocht wird. Der Vorteil: Auf diese Weise gefärbt ist es viel robuster als eine lackierte Version und die einzigartigen Farbeffekte wären mit dem herkömmlichen, oberflächlichen Auftrag kaum zu erreichen. Nach der Trocknung setzten Yael Mer und Shay Alkalay die Platten zu Blöcken zusammen und formten mit der CNC-Fräse Möbel aus ihnen – die Endgrain Kollektion. Dem folgte wenig später das Projekt "Herringbones", für das sie einzelne Bretter in farbige Pigmentbäder tauchten, jeweils in einer anderen Tiefe und im Winkel von 45 Grad. Die unterschiedlichen Farbschichten erzeugen in der Kombination ein elegantes Fischgrätmuster. 2019 übersetzen sie dann im Rahmen der Gestaltung einer Etage im Vitrahaus in Weil am Rhein die Technik des Tauchfärbens für die Vitra Heringbone Collection: Statt Stücke aus Holz tauchten sie dieses Mal unterschiedliche Objekte in Pigmentbäder, vom Kissen bis zum Gefäß. Je nach Material variiert so die Intensität und Linienführung der bunten Fischgrätmuster. Studioarbeiten, die sich einfügen lassen in eine industrielle Fertigung, ohne dabei ihren Charakter zu verlieren.

"Steps"

Labor und Spielplatz

"Wir betrachten alle unsere Projekte als Kooperationen, wollen nicht nur einen Auftrag erfüllen, sondern dazulernen und aus unserer eigenen Blase heraustreten", so Yael Mer. Für die Now Gallery auf dem Peninsula Square in London entwarfen sie "Steps", Outdoor-Sitzplätze aus Beton. Nachdem sie analysiert hatten, wie die öffentliche Fläche von den Besuchern genutzt wird, fiel ihre Wahl auf sesselförmige Sitze in unterschiedlichen Höhen, die eine animative Option der Erkundung bieten: Stufenförmig gruppiert können die höher gelegenen Plätze leicht erklettert werden. "Ein Spielplatz für Erwachse", resümiert Yael Mer.

In Bewegung bleiben ist ein starker Antrieb und eine fortlaufende Studie in der Arbeit von Raw Edges. Und die kann durchaus überraschend sein, wie bei "Stack up" für Established & Sons. Ein Stapel aus Schubladen mit Oberflächen wie Metall, Marmor, Plexiglas oder Leder, die sich ohne Gestell in unterschiedliche Richtungen herausziehen lassen und jeweils eine zufällige Form generieren. Bei den Schubladen "Hole in the Floor" scheinen diese dagegen regelrecht im Boden zu versinken. Bis es gebraucht wird, lehnt sich das Schränkchen "Pivot" von Arco auf hohen Beinen platzsparend an die Wand. Wenn man an seinen Schubladen zieht, wird es umso lebendiger: Alle drei können gleichzeitig ausgeschwenkt werden. Für die Kollektion "Object Nomades" von Louis Vuitton entwickelten sie eine Leuchte, Wandregale und einen Sessel, die sich allesamt zügig zusammenfalten lassen. Bei der Leuchte "Horah" für WonderGlass befestigten Raw Edges zudem gewölbte Glasblätter an einem Schwenkmotor. Die karussellförmige Dynamik ist inspiriert von dem israelischen Volkstanz "Horah", der in der Gemeinschaft im Kreis getanzt wird.

Installation "Endgrain", Chatsworth House, 2015

Geht eines ihrer Experimente mal daneben, landet es im Londoner Studio von Raw Edges auf den Regalen des "Cabinet of monsters". Auch wenn sie nie das Scheinwerferlicht erblicken werden, stellen die "Monster" wichtige Schritte im Prozess der Entwicklung dar. Unbeschwert kreativ sein sollen auch die Besucher des kommenden Salone del Mobile 2021, denn Raw Edges arbeiten aktuell zusammen mit einem großen Farbenhersteller aus Südkorea an einer Installation im Ausstellungsspace Ventura Centrale. "Woz'ere" soll sie heißen, angelehnt an die zahlreichen "I was here"-Tags, die Menschen seit Jahrhunderten im öffentlichen Raum als Spur ihres Daseins hinterlassen. Die Besucher des Salone sind so eingeladen, dem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung und Mitgestaltung nachzugehen und die Installation von Raw Edges im Zeitraum der Möbelmesse intuitiv zu verändern. Ihre ungebremste Neugier und pure Freude am Design geben Yael Mer und Shay Alkalay spielerisch weiter. "Die Möglichkeit über eine Entwicklung positive Emotionen bei Menschen zu erzeugen, ist eine unserer größten Antriebe", so Yael Mer. Positiv bleiben ist auch das Motto des Duos in der aktuellen Coronakrise: "Wir nutzen die Zeit zu Hause um all die Ideen weiterzuentwickeln, die wir bisher nicht zu Ende bringen konnten. Mal sehen, wohin uns das führen wird", erzählt Yael Mer. Man darf gespannt sein, so viel ist sicher.